an-Nazzām

Abū Ishāq Ibrāhīm ibn Saiyār an-Nazzām (arabisch أبو إسحاق ابراهيم بن سيار النظام, DMG Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Saiyār an-Naẓẓām; gest. zwischen 835 und 845) war ein muʿtazilitischer Kalām-Gelehrter und Philosoph. Er gilt als Schöpfer einer eigenen Theorie hinsichtlich der Wunderhaftigkeit des Korans, die als Sarfa-Theorie bezeichnet wird. An-Nazzāms Werke sind außer ein paar Fragmenten verloren. Josef van Ess hat anhand dieser Fragmente sein Lehrsystem rekonstruiert.

Leben

An-Nazzām erhielt seine Ausbildung in Basra, und zwar zum großen Teil bei seinem mütterlichen Onkel Abū l-Hudhail, dessen Adlatus (ghulām) er war. Väterlicherseits kam er aus einer Sklavenfamilie und war maulā eines Klans aus dem arabischen Stammesverbands der Bakr ibn Wā'il.[1] Nachdem 819 der Kalif al-Ma'mūn seine Residenz von Merw nach Bagdad verlegt hatte, erhielt er Zugang zu seinem Hof. Zeitweise bezog er vom Hof ein Gehalt, das so hoch war, dass er andere damit unterhalten konnte. Ob er dieses Gehalt als Theologe bezog, ist allerdings nicht klar, da er auch ein guter Dichter und Redner war und somit auch in der Position des Unterhalters tätig gewesen sein könnte. Zu seinen wichtigsten Schülern auf theologischer Ebene gehörte al-Dschāhiz.[2]

Lehre

Naturphilosophie

Auf naturphilosophischer Ebene wandte sich an-Nazzām vor allem gegen die atomistischen Auffassungen seines Lehrers Abū l-Hudhail. Nach seiner Theorie bestehen Körper nicht aus Aggregaten kleinster Teilchen, die nur durch Gottes Allmacht zusammengehalten werden, sondern aus Elementen, die sich gegenseitig durchdringen und entweder an der Oberfläche sichtbar werden oder im Inneren verborgen bleiben. Mit dem wechselnden Verborgensein und An-die-Oberfläche-Treten bestimmter Körper erklärte er auch die Veränderungen in Temperatur, Konsistenz usw.[3]

Asch-Schahrastānī schreibt an-Nazzām die Lehre zu, "dass Gott die existierenden Dinge auf einmal, so wie sie jetzt beständen, geschaffen habe, Metalle, Pflanzen, Thiere und Menschen, und dass die Schöpfung Adam's der Schöpfung seiner Kinder nicht vorangegangen sei, nur dass Gott einen Theil davon im Anderen verborgen habe, so dass das Früher- und Späthersein nur auf ihr Hervortreten aus den Orten ihrer Verborgenheit, nicht auf ihr Entstehen und ihre Existenz kommt."[4] Asch-Schahrastānī äußert, dass an-Nazzām diese Auffassung von den Philosophen übernommen habe, die das Verborgensein (kumūn) und Hervortreten (ẓuhūr) lehrten.[5]

Auffällig an an-Nazzāms Lehrsystem war auch seine anti-atomistische Bewegungstheorie. Danach muss sich Bewegung im "Sprung" (ṭafra) vollziehen, da es bei einer unbegrenzten Teilbarkeit des Raumes nicht denkbar ist, dass der bewegte Körper jede einzelne Stelle berührt.[6] Bewegung spielte ex negativo auch eine wichtige Rolle in seiner Erkenntnistheorie. Er definierte nämlich Wahrheit als "Ruhe des Herzens" (sukūn al-qalb). Das Kriterium für Wahrheit ist also subjektiv. Ob es mit der äußeren Wirklichkeit übereinstimmt, war für ihn weniger wichtig.[7]

Tragende Bedeutung hatte in seinem Lehrsystem zudem das Konzept des Geistes (rūḥ). Er stellte sich den Geist in Anknüpfung an das platonische Pneuma-Konzept als einen feinstofflichen Körper vor, der sich wie ein Gas mit dem Leib vermischt und ihn bis in die Fingerspitzen durchdringt, sich beim Tode aber wieder aus dieser Verbindung löst und selbständig weiterexistiert.[8] Schüler von an-Nazzām, unter ihnen Ahmad ibn Chābit, führten diesen Gedanken fort und entwickelten darauf aufbauend eine Theorie der Transmigration der Geister (tanāsuḫ).[9]

Nach Max Horten hat an-Nazzām mehrere Elemente seines naturphilosophischen Systems von dem griechischen Philosophen Anaxagoras übernommen.[10] Saul Horovitz meinte dagegen, dass er von stoischen Anschauungen beeinflusst war und beschrieb ihn "als Vertreter des Stoizismus unter den Arabern".[11]

Lehre vom Koran

Eines der auffälligsten Elemente in an-Nazzāms theologischem Lehrsystem war seine besondere Auffassung zur Wunderhaftigkeit des Korans. Einigkeit bestand unter den muslimischen Gelehrten darüber, dass die Zeitgenossen Mohammeds nicht imstande waren, dem Koran etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Während jedoch die meisten Gelehrten diese Unfähigkeit auf die rhetorischen Qualitäten des Korans zurückführten, meinte an-Nazzām, dass die Zeitgenossen nur deswegen zu einer Entgegnung auf den Koran unfähig gewesen seien, weil Gott sie davon abgehalten hatte. Abū l-Hasan al-Aschʿarī referiert von ihm die Auffassung: „Zu Komposition und Art der Abfassung (sc. des Korans) wären auch die Menschen imstande gewesen, wenn Gott sie nicht durch Erzeugung einer Unfähigkeit (ʿaǧz) in ihnen davon abgehalten hätte.“[12] Die wunderhafte Abhaltung der Menschen durch Gott wird in dieser Aussage mit dem arabischen Verb ṣarafa zum Ausdruck gebracht. Deshalb wird die besondere Iʿdschāz-Lehre an-Nazzāms mit dem Begriff Sarfa (ṣarfa, "Abwendung, Abhaltung") bezeichnet.[13] Hinsichtlich der sprachlichen Qualitäten soll an-Nazzām gelehrt haben, dass sie gewöhnliche menschliche Sprechfähigkeiten nicht überträfen.[14] Er vertrat die Auffassung, dass das eigentliche Wunder im Koran die Mitteilung verborgener Dinge (al-iḫbār ʿan al-ġuyūb) sei.[15]

Literatur

Arabische Quellen
Sekundärliteratur
  • Max Horten: "Die Lehre vom Kumūn bei Naẓẓām († 845). Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie im Islam." in Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 63 (1909) S. 774–792. Digitalisat
  • Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band III. Berlin: De Gruyter 1992. S. 296–419.
  • Josef van Ess: Das Kitāb an-Nakṯ des Naẓẓām und seine Rezeption im Kitāb al-Futyā des Ǧāḥiẓ: eine Sammlung der Fragmente mit Übersetzung und Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1972.
  • Josef van Ess: Art. "Al-Naẓẓām" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. VII, S. 1057a-1058.
  • Saul Horovitz: Ueber den Einfluss der griechischen Philosophie auf die Entwicklung des Kalam. Schatzky, Breslau, 1909. S. 8–33. Digitalisat
  • Muḥammad ʿAbd-al-Hādī Abū-Rīda: Ibrāhīm Ibn-Saiyār an-Naẓẓām wa-ārāʾuhu al-kalāmīya al-falsafīya. Maṭbaʿat Laǧnat at-Taʾlīf wa-t-Tarǧama wa-n-Našr, Kairo, 1946. Digitalisat

Belege

  1. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 296.
  2. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 302f.
  3. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 335–342.
  4. aš-Šahrastānī: al-Milal wa-n-niḥal. 1992, S. 50. - Dt. Übers. Haarbrücker S. 57.
  5. aš-Šahrastānī: al-Milal wa-n-niḥal. 1992, S. 50. - Dt. Übers. Haarbrücker S. 57.
  6. Vgl. dazu van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 310–324.
  7. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 380f.
  8. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 369f.
  9. Vgl. van Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 429–436.
  10. Horten: "Die Lehre vom Kumūn bei Naẓẓām". 1909, S. 776, 784f, 790, 792.
  11. Horovitz: Ueber den Einfluss der griechischen Philosophie auf die Entwicklung des Kalam. 1909, S. 8, 33.
  12. Vgl. al-Ašʿarī: Maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn. Ed. Hellmut Ritter. Istānbūl: Maṭbaʿat ad-daula 1929–1933. S. 225.
  13. Vgl. dazu Ess Theologie und Gesellschaft. 1992, S. 412f.
  14. R.C. Martin: Art. "Inimitability" in Jane Dammen McAuliffe (ed.): Encyclopaedia of the Qur’an. 6 Bde. Leiden 2001–2006. Bd. II, S. 526–536. Hier S. 532a.
  15. Vgl. al-Ašʿarī: Maqālāt al-islāmīyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn. Ed. Hellmut Ritter. Istānbūl: Maṭbaʿat ad-daula 1929–1933. S. 225.