Alters- und Hinterlassenenversicherung

Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist die obligatorische Rentenversicherung der Schweiz. Sie bildet zusammen mit der Invalidenversicherung (IV) und den Ergänzungsleistungen (Schweiz) die erste – staatliche – Säule des schweizerischen Dreisäulensystems und dient der angemessenen Sicherung des Existenzbedarfs. Die AHV wird nach dem Umlageverfahren finanziert und hat den Charakter eines Solidaritätswerks.

Altersrenten erhalten Frauen ab dem vollendeten 64. Altersjahr, Männer ab dem vollendeten 65. Altersjahr. Es besteht die Möglichkeit, bereits vor dem 64./65. Altersjahr AHV-Renten zu beziehen, jedoch nur unter bestimmten Auflagen und mit einer Rentenkürzung. Der Bezug der AHV-Rente kann auch um bis zu fünf Jahre aufgeschoben werden. Abhängig von der Dauer des Aufschubs wird ein Zuschlag auf die Rente gewährt. Hinterlassenenrenten erhalten Witwen und Witwer, sofern sie unmündige oder in Ausbildung befindliche Kinder im gemeinsamen Haushalt haben. Im Weiteren erhalten Frauen nach dem Tod ihres Mannes in jedem Fall eine Rente, sofern sie das 45. Altersjahr erreicht haben. Bei einer Eingetragenen Partnerschaft erhält der überlebende Teil ebenfalls eine Rente. Sie entspricht derzeit der Witwerrente.

Entstehung und Geschichte

Bis ins 19. Jahrhundert kümmerten sich Familienangehörige, gemeinnützige Organisationen und die Kirche um Betagte und Erwerbsunfähige. Es gab lediglich eine öffentliche Armenfürsorge. In der Schweiz herrschte um 1880 vor allem unter Fabrikarbeitern Armut. Die Arbeiter mussten mit wenig Lohn auskommen, weder für schwierige Zeiten noch für das Alter konnten sie vorsorgen. Erstmals forderten Gewerkschaften und Politiker eine Altersversicherung.[1] 1904 forderten FDP und SP eine AHV auf eidgenössischer Ebene. Es folgen verschiedene Vorstösse im Parlament. Umstritten war vor allem die Finanzierung.

Die Verfassungsgrundlage für die spätere AHV wurde bei einer Volksabstimmung am 6. Dezember 1925 geschaffen. 65 % der Stimmbürger nahmen die Ergänzung der Bundesverfassung an, die den Bund beauftragte, auf dem Wege der Gesetzgebung die AHV einzuführen. Zugleich erhielt er die Befugnis, auf einen späteren Zeitpunkt auch die Invalidenversicherung (IV) zu errichten. Die aus der Besteuerung der gebrannten Wasser und des Tabaks fliessenden Geldmittel werden für die Finanzierung der AHV reserviert. Die erste entsprechende Gesetzesgrundlage scheiterte allerdings am 6. Dezember 1931 mit nur 39,7 % Ja-Stimmen vor dem Volk.[2] Der Bund überwies in der Folge einen kleinen Beitrag an die Vorläuferorganisation der Pro Senectute, welche alte Bedürftige unterstützt. Die heutige AHV entstand aus der Lohn- und Verdienstausgleichskasse für Wehrmänner, welche in den Aktivdienstzeiten des Zweiten Weltkriegs neu konzipiert wurde. Am 6. Juli 1947 wurde in einer Volksabstimmung die AHV nach ähnlichem Konzept mit 80 % Ja-Stimmen angenommen. Am 1. Januar 1948 konnte dann die AHV eingeführt werden. Federführend bei der Entstehung der AHV war Bundesrat Walther Stampfli. Die Weiterentwicklungen, wie die Ergänzungsleistungen (1965) und das Drei-Säulen-System (1972), erfolgten unter Bundesrat Hans-Peter Tschudi, der deshalb oft als «Vater der AHV» bezeichnet wird.[3] Um die AHV den Bedürfnissen der Zeit und der geänderten Demographie anzupassen, wurden bisher insgesamt zehn Revisionen vorgenommen. Die 10. AHV-Revision, die 1995 von einer Mehrheit von 60,7 % der Stimmberechtigten befürwortet worden war, gilt bis heute insofern als Meilenstein, als mit ihr ein Systemwechsel in Richtung einer sowohl individuellen als auch beide Geschlechter berücksichtigende Rente durchgesetzt wurde. Dieser AHV-Revision verdankt die Schweiz das sog. Ehegattensplitting, an dem auch BR Ruth Dreifuss massgeblich beteiligt war.[4][5][6] Denn mit derselben Revision stimmte man auch gleichzeitig einer schrittweisen Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre zu.[7] Die 11. Revision, die unter anderem die Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen auf 65 Jahre vorsah, wurde am 16. Mai 2004 dem Volk zur Abstimmung vorgelegt und verworfen.[8] Ebenfalls abgelehnt (mit 52,7 %) wurde am 24. September 2017 die Rentenreform 2020.[9] Diese Reform hatte Änderungen bei der AHV (Flexibilisierung, Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahren, eine Erhöhung der Neurenten um monatlich 70 CHF) sowie beim BVG (Absenkung des Rentenumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 %) vorgesehen. Eine positive Beurteilung des Gesamtpakets erfuhr der Reformplan mehrheitlich vom links-grünen Lager, von den Gewerkschaften und von der politischen Mitte, was aber nicht für eine Abstimmungsmehrheit reichte.[10] 2019 stimmten die Stimmberechtigten dafür der STAF-Vorlage zu (Senkung der Unternehmenssteuern kombiniert mit einer jährlich wiederkehrenden Einlage von 2 Mia CHF in die AHV).[11]

Organisation

Die AHV weist weitgehend die gleiche Struktur wie die Invalidenversicherung auf, mit der sie auch organisatorisch eng verbunden ist.

Zwei Bereiche der AHV sind zentral organisiert. Das Bundesamt für Sozialversicherung gewährleistet die einheitliche Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen. Die Zentrale Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf führt die Gesamtbuchhaltung der AHV und weist jeder versicherten Person ihre Versichertennummer zu. Alle anderen Aufgaben werden von den Ausgleichskassen wahrgenommen. Die über hundert Kassen werden von Verbänden, Arbeitgebern, den Kantonen und dem Bund getragen. Die Ausgleichskassen sind auch die Ansprechpartner der Versicherten.

Versicherte

Obligatorisch bei der AHV versichert sind:

  • alle in der Schweiz wohnhaften Personen ab dem 20. Altersjahr (Erwerbstätige ab dem 18. Altersjahr), also auch Studierende und nicht erwerbstätige Personen, jedoch ohne Personen, die aufgrund zwischenstaatlicher Verträge (insbesondere der «Bilateralen II») in anderen Staaten pflichtversichert sind
  • Arbeitnehmer, die im Ausland wohnen, aber in der Schweiz arbeiten
  • Schweizer Bürger, die bei einem Schweizer Arbeitgeber im Ausland beschäftigt sind

Freiwillig versichern lassen können sich Staatsangehörige der Schweiz, EU oder EFTA, die mindestens fünf Jahre obligatorisch bei der AHV versichert waren und unmittelbar danach Wohnsitz ausserhalb der Schweiz, EU und EFTA nehmen.

Finanzierung

Die Finanzierung der AHV erfolgt hauptsächlich über die einkommensabhängigen Beiträge der Versicherten. Ausser den Kindern sind alle Versicherten beitragspflichtig. Weitere Gelder fliessen der AHV vom Bund (aus Mehrwertsteueranteilen sowie Tabak- und Alkoholsteuern) und von den Kantonen zu. Die staatlichen Beiträge belaufen sich auf rund 20 % der Erträge. Bei unselbständig Erwerbenden teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Prämie je hälftig mit je 4,35 % des Bruttolohnes. Inklusive IV und EO ergibt dies einen Abzug von je 5,3 % (Stand seit 1. Januar 2021). Bei selbständig Erwerbenden richtet sich der Beitrag nach dem Einkommen (max. 9,95 % des Erwerbseinkommens).[12]

Die AHV finanziert die Renten nach dem Umlageverfahren, das heisst, sie sammelt kein Kapital an, sondern gibt die Einnahmen sofort zur Zahlung der Renten wieder aus. Die Umverteilung läuft über die AHV-Ausgleichskassen sowie den AHV-Ausgleichsfonds. Der AHV-Ausgleichsfonds dient als Reserve für Schwankungen der Mittelzuflüsse und soll gemäss Gesetz die Renten eines Jahres auf Reserve haben, d. h., er soll so hoch sein, dass ohne Mittelzuflüsse die Leistungen eines Jahres daraus finanziert werden könnten.

Um die Finanzierung und die Leistungsfähigkeit der AHV gibt es ständige Diskussionen zwischen Bürgerlichen und Linken. Während die einen die Demographie und die ungünstige Entwicklung zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern mit Sorge beobachten und Reformen (u. a. Leistungskürzungen, höhere Beiträge, höheres Rentenalter, Aufhebung des Mischindexes) fordern, vertrauen die anderen auf den Generationenvertrag und einen sich fortsetzenden Produktivitätszuwachs; sie wollen die AHV ausbauen und das Rentenalter ohne Rentenkürzungen flexibilisieren. Diese gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mündet in die wiederkehrenden Versuche zur Revision der AHV.

Leistungen

Bei Eintritt eines Leistungsanspruchs wird die Rente von der zuständigen Ausgleichskasse ausbezahlt. Die Renten werden alle zwei Jahre der Lohn- und Preisentwicklung angepasst (Mischindex). Wenn die Teuerung in einem Jahr höher als 4 % ist, wird die Rente früher angeglichen. Deckt die Rente den Existenzbedarf nicht, werden sogenannte Ergänzungsleistungen ausbezahlt.

Die Altersrente wird aufgrund des durchschnittlichen Jahreseinkommens, der Beitragsjahre (maximal 44 Jahre) sowie der gutgeschriebenen Erziehungs- und Betreuungszeiten ermittelt. Die Minimalrente beträgt 1'225, die Maximalrente 2'450 Franken pro Monat (Stand 2023).[13][14] Für die Maximalrente sind 44 Beitragsjahre und ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 85'320 Franken oder mehr erforderlich (Stand 2019).

Verheiratete erhalten aufgrund der Plafonierung (Deckelung, von frz. Plafond) zusammen maximal 150 % der Maximalrente. Diese Deckelung wird neben steuerlichen Regeln auch als Heiratsstrafe gesehen.

AHV-Nummer

Jede versicherte Person erhält ihre persönliche Versichertennummer, auch AHV-Nummer genannt. Die Zuweisung durch die ZAS stellt sicher, dass eine bestimmte Nummer nicht an mehrere lebende Personen vergeben wird. Die korrekte Bezeichnung gemäss Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) lautet '(AHV-) Versichertennummer'.[15] Allerdings ist die umgangssprachliche Bezeichnung 'AHV-Nummer' vielfach üblich (auch in schriftlicher Korrespondenz mit Behörden, Krankenkassen und Versicherungen).

Versichertennummer seit dem 1. Juli 2008

Per 1. Juli 2008 wurde eine 13-stellige Sozialversicherungsnummer eingeführt (franz.: numéro de sécurité sociale, NSS). Diese Nummer enthält keine Personenkennzeichen mehr, die Grenzen ihrer Verwendung sind gesetzlich festgeschrieben.[16] Sie wird auch in der Invalidenversicherung, der Erwerbsersatzordnung und dem Automatischen Informationsaustausch (zu Steuerzwecken)[17] verwendet.

Seit 1. Januar 2022 dürfen Behörden die AHV-Nummer systematisch als Personenidentifikator verwenden, sofern die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben dies erfordert. Ziel ist es, Verwechslungen bei der Bearbeitung von Personendossiers zu vermeiden, zur Umsetzung der «E-Government-Strategie Schweiz» beizutragen und die Effizienz der Verwaltung zu verbessern.[18]

Historisches

Das im Folgenden dargestellte alte System stieß an technische, organisatorische und datenschutzrechtliche Grenzen, weswegen es, siehe oben, abgelöst wurde.

Bei der Einführung der AHV bestand die AHV-Nummer aus drei Ziffernblöcken mit insgesamt 8 Stellen. Im Jahr 1964 kam ein vierter, dreistelliger Ziffernblock hinzu, womit die Nummer 11-stellig wurde. Die bis zum 30. Juni 2008 vergebenen AHV-Nummern sind wie folgt aufgebaut:

  • Erste 3 Ziffern: Beginn des Nachnamens
  • Nächste 2 Ziffern: Geburtsjahr
  • Nächste 3 Ziffern: Geburtstag und Geschlecht
Die 1. Ziffer dieser Gruppe: Quartal der Geburt; Geschlecht
Quartalmännlichweiblich
1. Quartal, Beginn Januar15
2. Quartal, Beginn April26
3. Quartal, Beginn Juli37
4. Quartal, Beginn Oktober48
2. und 3. Ziffer dieser Gruppe: Anzahl der Tage vom Quartalsbeginn bis zum Geburtstag, ein neuer Monat beginnt immer nach 31 Tagen (573 = Frau mit Geburtstag am 11. März [31 + 31 + 11 = 73])
  • Letzte 3 Ziffern: Ordnungsnummer, Nationalität, Prüfziffer
1. Ziffer dieser Gruppe: Ordnungsnummer, von 1 bis 9
2. Ziffer dieser Gruppe: 1 bis 4 für Schweizer, 5 bis 8 für Ausländer und Staatenlose
3. Ziffer dieser Gruppe: Prüfziffer, lässt sich aus allen vorangehenden Ziffern berechnen.

Die vier Ziffernblöcke sind jeweils durch einen Punkt getrennt. Beispiel einer AHV-Nummer: 123.45.678.113 – aus dieser lässt sich ermitteln, dass die Person weiblich, Schweizerin und am 16. Juni 1945 geboren ist und ihr (lediger) Name mit den Buchstaben As oder At beginnt.

Siehe auch

  • Gesetzliche Versicherung
  • AHV 21

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHV gestern, 1880 auf entwicklung-ahv.ch, abgerufen am 19. Februar 2021.
  2. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV: Die Geschichte der AHV. In: Faktenblätter. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, 6. März 2018, abgerufen am 8. Februar 2021 (deutsch).
  3. Das Wunderwerk – ein Rückblick auf die erstaunliche Geburt der AHV In: Neue Zürcher Zeitung vom 9. Juli 2022
  4. https://www.woz.ch/-9cc8
  5. https://www.entwicklung-ahv.ch/alters-und-hinterlassenenversicherung/ahv-gestern/detail/Timeline/show/37/, abgerufen am 15. April 2020
  6. http://nzz-files-prod.s3-website-eu-west-1.amazonaws.com/files/0/8/5/10_1.18297085.+AHV-Revision+Kommentar+NZZ+26_1.18297085.6_1.18297085.95+reduziert_1.18297085.pdf
  7. https://www.annabelle.ch/leben/gesellschaft/65-ist-neue-64-48410
  8. Olivier Pauchard: Die 11. AHV-Revision ist gescheitert. Swissinfo.ch, 1. Oktober 2010, abgerufen am 24. September 2017: „Damit hätten sich 800 Millionen Franken einsparen lassen.“
  9. https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/darum-scheiterte-die-rentenreform/story/13641944, abgerufen am 5. April 2020
  10. Therese Wüthrich: Die Altersvorsorge 2020. Erhöhung des Frauenrentenalters - Anlass zur Kontroverse. Schweizer Zeitschrift Widerspruch 69/36. Jg., 1. Halbjahr 2017, ISBN 978-3-85869-753-0, S. 139
  11. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/abstimmungen/20190519/steuerreform-und-ahv-finanzierung.html
  12. Änderungen auf 1. Januar 2020. Informationsstelle AHV/IV in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen, November 2019, S. 6, abgerufen am 27. Dezember 2019.
  13. Änderungen auf 1. Januar 2023. Leistungen der AHV. In: Informationsstelle AHV/IV. Informationsstelle AHV/IV in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen, 1. Januar 2023, S. 6, abgerufen am 24. Februar 2023.
  14. Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV): AHV/IV-Minimalrente steigt um 10 Franken. Bundeskanzlei, 14. Oktober 2020, abgerufen am 25. Januar 2022.
  15. Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) abgerufen am 27. Oktober 2018
  16. Die neue AHV-Nummer bzw. Sozialversicherungsnummer der Schweiz Webseite der Proxena GmbH, abgerufen am 27. März 2017
  17. Bundesgesetz über den internationalen automatischen Informationsaustausch in Steuersachen (AIAG) abgerufen am 27. Oktober 2018
  18. Erweiterte Verwendung der AHV-Nummer: Inkrafttreten abgerufen am 23. November 2021