Ableismus

Ableismus () (von englisch able fähig; Suffix -ism = „-ismus“) bezeichnet eine Form der Diskriminierung, bei der behinderte Menschen Vorurteilen, Benachteiligung und Vorbehalten ausgesetzt sind. Der Begriff leitet sich vom anglo-amerikanischen ability („Fähigkeit“) ab und beinhaltet die Annahme, dass Menschen mit Behinderungen weniger Wert oder weniger Fähigkeiten haben als nicht-behinderte Menschen. Ableismus zeigt sich durch stereotype Denkmuster, soziale Ausgrenzung, ungerechte Behandlung und strukturelle Barrieren, die behinderten Menschen den Zugang zu verschiedenen Lebensbereichen erschweren können.

Begriffsherkunft und -geschichte

Geprägt haben den aus dem Anglo-amerikanischen abgeleiteten sozialwissenschaftlichen Begriff die Disability Studies im Rahmen des US-amerikanischen Disability Rights Movement (Behindertenbewegung für die Rechte von behinderten Menschen) in den 1980er-Jahren; die US-amerikanische Wissenschaftlerin Fiona Kumari Campbell hat dabei maßgeblich zur internationalen Bekanntheit des Konzepts beigetragen: In ihrer Publikation Contours of Ableism hat sie ihn ausgearbeitet und etabliert und beschreibt ihn als ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und (eingeübten, eingefahrenen) Praktiken, welche ein bestimmtes Selbst- und Körperbild (einen körperlichen Standard) hervorbringen, was als „perfekt“ und „art-typisch“ und damit wesentlich und vollständig menschlich dargestellt wird. Damit wird „Behinderung“ ein Zustand verminderter bzw. minderwertiger Menschlichkeit.[1]

Der Ansatz erweitert das Konzept der „Behindertenfeindlichkeit“ auf die potenziell diskriminierende Bewertung von Fähigkeiten im Allgemeinen; er betrachtet gesellschaftliche Normen und Vorstellungen von Normalität als Grundlage für die Abwertung oder Benachteiligung von Personen aufgrund ihrer Fähigkeiten oder deren Wahrnehmung und soll analog zu Sexismus oder Rassismus theoretische Auseinandersetzung ermöglichen, ist auch in aktivistischen Kontexten von Bedeutung und wird sowohl in angloamerikanischen Debatten als auch im deutschsprachigen Raum aufgegriffen.

Die britischen Disability Studies thematisierten unter den Begriffen disablement und disablism bzw. disableism Behinderung zunächst als eine Form gesellschaftlicher Unterdrückung. Gleichzeitig wurden in den Cultural Disability Studies in den USA, Australien und Kanada unter dem Konzept des ableism spezifische Formen der behinderungsbezogenen Diskriminierung problematisiert.

Begriffserklärung und -definition

Ableismus beschreibt also ähnlich wie Sexismus und Rassismus ein System von Praktiken, Institutionen, Glaubensbildern und Werten, welche soziale Beziehungen formen und ein geschlossenes Weltbild schaffen. Dieses System schließt Menschen ein, die als zur „Norm“ gehörig angesehen werden, während es andere ausschließt und zu (unsichtbaren) „Anderen“ erklärt; bestimmte Fähigkeiten, die als wesentlich erachtet werden, werden gezielt hervorgehoben und gleichzeitig wird bewertet, wie Fähigkeiten aussehen müssten, um als „nicht behindert“ eingeordnet zu werden. Es existiert allerdings weder unter Behindertenrechtsaktivisten noch in der Wissenschaft eine einheitliche Definition, die den Umfang des Begriffs klar abgrenzt: 2023 sind die Forschungen zu Ableismus noch nicht weit fortgeschritten und im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige umfassende Publikationen, die sich mit diesem Thema befassen.[2]

Disablismus

Der Begriff Disablismus (von englisch disabled behindert) bezeichnet das Konzept, bei dem Personen aufgrund der Zuschreibung fehlender oder verminderter (Leistungs-)Fähigkeiten als „behindert“ kategorisiert werden: Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wird auch so genannt. Gregor Wolbring, Assistant Professor in der Abteilung Community Health Service der University of Calgary (Kanada), erklärt Disablismus zum „Begleiter“ des Ableismus:

„In seiner allgemeinen Form ist Ableism ein Bündel von Glaubenssätzen, Prozessen und Praktiken, das auf Grundlage der je eigenen Fähigkeiten eine besondere Art des Verständnisses des Selbst, des Körpers und der Beziehungen zu Artgenossen, anderen Arten und der eigenen Umgebung erzeugt, und schließt die Wahrnehmung durch Andere ein. Ableism beruht auf einer Bevorzugung von bestimmten Fähigkeiten, die als essentiell projiziert werden, während gleichzeitig das reale oder wahrgenommene Abweichen oder Fehlen von diesen essentiellen Fähigkeiten als verminderter Daseinszustand etikettiert wird, was oft zum begleitenden Disableism führt, dem diskriminierenden, unterdrückenden oder beleidigenden Verhalten, das aus dem Glauben entsteht, dass Menschen ohne diese ‚essentiellen‘ Fähigkeiten anderen unterlegen seien.“[3]

Auch Fiona Campbell unterscheidet Disablismus und Ableismus: Ihr zufolge ist Disablismus traditionell Schwerpunkt der Forschungen im Bereich der Disability Studies; Disablismus fördere die Ungleichbehandlung der (körperlich) Behinderten gegenüber Nichtbehinderten, er markiere den Behinderten (distanziert) als „Den anderen“ und arbeite aus der Perspektive der Menschen ohne Behinderung.

Mentalismus

Diskriminierung gegenüber „psychisch kranken“ Personen und Personen, die als „psychisch krank“ wahrgenommen werden, nennt man auch „Mentalismus“. Der Begriff stammt von Judi Chamberlin aus dem Psychiatric Survivor Movement.[4]

Ableismus, Disablismus und Behindertenfeindlichkeit

Laut Rebecca Maskos „ist Ableismus breiter als „Behindertenfeindlichkeit“: Wie Rassismus und Sexismus bilde der Begriff nicht nur die Praxis im Umgang mit einer Gruppe ab, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen, welche diese Praxis hervorbringen.“ Ableismus zeige sich nicht nur im „schrägen Kommentar“ oder im „Kopfstreicheln“, sondern auch in der Treppe ohne Rampe, im fehlenden Aufzug, in den Geldern, die Veranstalter für Lautsprach-/Gebärdensprachdolmetscher, Live-Streaming oder Leichte Sprache nicht aufbrächten. „Behindertenfeindlichkeit“ könne umgekehrt auch suggerieren, dass es reiche, einfach nur die eigene Haltung umzuwandeln – nämlich in eine „behindertenfreundliche“.[5]

Siehe auch

Literatur

  • Fiona A. Kumari Campbell: Refusing Able(ness): A Preliminary Conversation about Ableism. In: M/C Journal. 11. Jahrgang, Nr. 3, 2008 (org.au).
  • ISBN 978-3-7815-5725-3.
  • Judi Chamberlin: On Our Own: Patient Controlled Alternatives to the Mental Health System. 1978
  • Pat Griffin, Madelaine L. Peters, Robin M. Smith: Teaching for diversity and social justice. Hrsg.: Maurianne Adams, Lee Anne Bell, Pat Griffin. 2nd Auflage. Band 1. Taylor & Francis, 2007, ISBN 978-0-415-95199-9, Ableism Curriculum Design.
  • Tanja Kollodzieyski: Ableismus. Berlin: SUKULTUR, 2020, ISBN 978-3-95566-125-0 (Aufklärung und Kritik 527)
  • Mike Clear: The „Normal“ and the Monstrous in Disability Research. In: Disability & Society. 14. Jahrgang, Nr. 4, 1999, S. 435–448.
  • Ron Amundson, Gayle Taira: Our Lives and Ideologies: The Effects of Life Experience on the Perceived Morality of the Policy of Physician-Assisted Suicide. In: Journal of Policy Studies. 16. Jahrgang, Nr. 1, 2005, S. 53–57 (http://uhh.hawaii.edu./~ronald/pubs/2005-Amundson-Taira.pdf [PDF]).
  • Luisa L’Audace: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht. Eden Books, 2022, ISBN 978-3-95910-383-1.
  • Yoshitaka Iwasaki, Jennifer Mactavish: Ubiquitous Yet Unique: Perspectives of People with Disabilities on Stress. In: Rehabilitation Counselling Bulletin. 48. Jahrgang, Nr. 4, 2005, S. 194–208, doi:10.1177/00343552050480040101.
  • Raúl Krauthausen: Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. Rowohlt Verlag 2023, ISBN 978-3-499-01029-3
  • Tobias Buchner, Lisa Pfahl, Boris Traue: Zur Kritik der Fähigkeiten. Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner. In: Zeitschrift für Inklusion. 2/2015 (open access)
  • Thomas Hehir: Special education for a new century. Hrsg.: Lauren I. Katzman (= Harvard educational review. Band 41). Harvard Educational Review, 2005, ISBN 978-0-916690-44-1, Eliminating Ableism in Education.
  • Laura E. Marshak, Claire J. Dandeneau, Fran P. Prezant, Nadene A. L’Amoreaux: The School Counselor’s Guide to Helping Students with Disabilities (= Jossey-Bass teacher). John Wiley and Sons, 2009, ISBN 978-0-470-17579-8.
  • Fiona A. Kumari Campbell: Contours of Ableism: The Production of Disability and Abledness. Palgrave Macmillan, 2009, ISBN 978-0-230-57928-6.
  • Nina Mackert: Critical Ability History. Für eine Zeitgeschichte der Fähigkeitsnormen. In: Zeithistorische Forschungen 19 (2022), S. 341–354.
  • Thorsten Merl: un/genügend fähig. Zur Herstellung von Differenz im Unterricht inklusiver Schulklassen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2019,
  • Paul Miller, Sophia Parker, Sarah Gillinson: Disablism: how to tackle the last prejudice. Demos, London 2004, ISBN 1-84180-124-0 (englisch, Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen).
  • Gregor Wolbring: Die Konvergenz der Governance von Wissenschaft und Technik mit der Governance des Ableism. University of Calgary, Kanada 2009 (ucalgary.academia.edu).
  • Judith Heumann: Being Heumann. Beacon Press Boston, 2020.
  • Alison Kafer: Feminist Queer Crip. Indiana University Press, 2013.
  • Fiona A. Kumari Campbell: Inciting Legal Fictions: Disability Date with Ontology and the Ableist Body of the Law. In: Griffith Law Review. 10. Jahrgang, Nr. 1, 2001, S. 42–62.
  • Rebecca Maskos: Was heißt Ableism? In: arranca! Nr. 43, 2010.
  • Andrea Schöne: Behinderung und Ableismus. Unrast 2022, ISBN 978-3-89771-152-5.
  • Ivan Eugene Watts, Nirmala Erevelles: These Deadly Times: Reconceptualizing School Violence by Using Critical Race Theory and Disability Studies. In: American Educational Research Journal. 41. Jahrgang, Nr. 2, 2004, S. 271–299 (http://jstor.org./stable/3699367).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sarah Karim: Soziologische Disability Studies. In: Anne Waldschmidt (Hrsg.): Handbuch Disability Studies. Springer VS Wiesbaden, 2022, ISBN 978-3-531-17537-9, S. 149–150, doi:10.1007/978-3-531-18925-3.
  2. Andrea Schöne: Behinderung und Ableismus. Unrast, 2022, ISBN 978-3-89771-152-5, S. 8.
  3. Gregor Wolbring: Die Konvergenz der Governance von Wissenschaft und Technik mit der Governance des „Ableism“. (PDF; 223 kB). In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis. Nr. 2. September 2009, S. 30. Abgerufen am 19. Januar 2011.
  4. Judi Chamberlin: On Our Own: Patient Controlled Alternatives to the Mental Health System. University of Michigan, 1978, ISBN 0-8015-5523-X.
  5. Rebecca Maskos: Warum Ableismus Nichtbehinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen. dieneuenorm.de, 26. Oktober 2020, abgerufen am 22. April 2021.

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