Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011

Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011
Ergebnis (in %)[1]
 %
40
30
20
10
0
37,0
8,7
7,0
6,7
3,9
3,2
2,8
1,9
28,8
Sitzverteilung
Insgesamt 217 Sitze

Die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung in Tunesien 2011 fand am 23. Oktober 2011 statt, um der neuen, demokratischen Herrschaft nach der Revolution in Tunesien 2010/2011 eine dauerhafte rechtliche Grundlage zu geben. Sie wurde vom tunesischen Übergangs-Staatspräsidenten Fouad Mebazaa in einer Fernsehansprache am 3. März 2011 für den 24. Juli angekündigt, am 8. Juni 2011 jedoch auf den 23. Oktober verschoben.[2] Es handelte sich um die ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes.

Bei der Wahl wurden die Mitglieder der Abgeordnetenkammer für eine Legislaturperiode von einem Jahr gewählt. Aufgabe der Verfassunggebenden Versammlung war es, eine neue Verfassung auszuarbeiten und die nächste Präsidentschafts- und Parlamentswahl zu organisieren.[3] Außerdem hatte sie die Macht, entweder eine neue Regierung zu ernennen oder die Amtszeit der gegenwärtigen Regierung bis zu allgemeinen Wahlen zu verlängern.[4] 217 Sitze wurden durch die Wahl bestimmt,[5] 89 davon gewann die islamistische[6] Ennahda.

Hintergrund

Die Verfassunggebende Versammlung war nötig geworden, weil die bisherige Verfassung auf die Regierungspartei Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) zugeschnitten war und jede ernsthafte Opposition benachteiligte. Deshalb war sie nicht für eine Mehrparteien-Demokratie geeignet, wie sie nach der Revolution in Tunesien 2010/2011 angestrebt wurde, um sich von der Autokratie des geflohenen Präsidenten Ben Ali zu lösen. Die bisherige Verfassung sah zudem für den Fall, dass das Präsidentenamt nicht besetzt ist, Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen vor. Damit wäre nach der Flucht Ben Alis am 14. Januar 2011 eine Präsidentschaftswahl bis Mitte April 2011 notwendig gewesen; eine Frist, die die Organisation demokratischer Wahlen kaum zugelassen hätte.

Wahlsystem

Die Wahl wurde nach dem am 10. Mai 2011 verabschiedeten Dekret des Präsidenten Nr. 35 abgehalten.[7] Gewählt wurde nach dem Verhältniswahlrecht. Eine Sperrklausel gab es nicht. Alle Wahllisten mussten geschlechterparitätisch besetzt sein.

Wahlbezirke, Kandidaten, Parteien

Neben den 27 Wahlbezirken im Inland wurden auch sechs im Ausland eingerichtet: in Marseille und Paris, in Italien, Deutschland, Kanada und Abu Dhabi. Insgesamt gab es 1600 verschiedene Kandidatenlisten (Stand Mitte September 2011). Gut die Hälfte (845) wurden von Parteien aufgestellt, 678 von Unabhängigen und 77 von Parteienbündnissen.[5]

Umfragen favorisierten die Partei Ennahda von Raschid al-Ghannuschi, die tunesische Variante der islamisch ausgerichteten Nahda-Bewegung. Ghannuschi war im Januar 2011 nach mehr als 20 Jahren aus seinem Exil in London zurückgekehrt und hatte seine Partei wieder offiziell anerkennen lassen. Ebenfalls wurde der säkularen Progressiven Demokratischen Partei (PDP) von Ahmed Najib Chebbi und Maya Jribi sowie dem sozialdemokratischen Ettakatol (FDTL) von Mustafa Ben Jaafar gute Chancen eingeräumt.[8]

Spitzenkandidaten

Wahl

Insgesamt waren rund 8,3 Millionen Tunesier (Registrierte und Nichtregistrierte) im In- und Ausland wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 70 Prozent aller wahlberechtigten tunesischen Staatsbürger oder etwa 4,3 Millionen.[9] Da die Wahlbeteiligung alle Erwartungen übertraf, kam es bereits am frühen Morgen zu Warteschlangen. Teilweise mussten die Wahlwilligen stundenlang anstehen. Die Wahllokale waren von 7 bis 19 Uhr geöffnet.[10]

Auf den regionalen Wahllisten der Parteien mussten sich Frauen und Männer abwechseln, wobei bei 93 Prozent aller Listen ein Mann an erster Stelle stand. Da auf viele Wahllisten nur ein Sitz entfiel, ergab sich unter den gewählten Abgeordneten ein Frauenanteil von 26 Prozent.[11]

Nationales Ergebnis

Ergebnis der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011
Partei / Bündnis / ListeStimmenSitze
Anzahl%+/−Anzahl+/−
Ennahda1.501.32037,04Neu89Neu
Kongress für die Republik (CPR)353.0418,71Neu29Neu
Ettakatol (FDTL)284.9897,03+6,9120+20
Volkspetition für Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung273.3626,74Neu26Neu
Progressive Demokratische Partei (PDP)159.8263,94+3,9116+16
Die Initiative129.1203,19Neu5Neu
Demokratisch-Modernistischer Pol (PDM)113.0052,79+1,205+3
Afek Tounes76.4881,89Neu4Neu
Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT)63.6521,57Neu3Neu
Volksbewegung30.5000,75Neu2Neu
Bewegung Sozialistischer Demokraten (MDS)22.8300,56−4,072−14
Freie Patriotische Union (UPL)51.6651,26Neu1Neu
Bewegung Demokratischer Patrioten (MOUPAD)33.4190,83Neu1Neu
Maghrebinische Liberale Partei (PLM)19.2010,47Neu1Neu
Sozialdemokratische Partei der Nation15.5340,38Neu1Neu
Neo-Destur15.4480,38Neu1Neu
Partei des Fortschrittlichen Kampfes9.9780,25Neu1Neu
Justice et Equite (unabhängig)7.6210,19Neu1Neu
Parti de la nation culturel et unioniste5.5810,14Neu1Neu
Unabhängige Listen62.2931,54+1,288+8
Listen ohne Sitz1.290.29331,83
Gesamt4.053.148100,00217
Gültige Stimmen4.053.14894,06
Ungültige Stimmen255.7405,94
Wahlbeteiligung4.308.88851,97
Wahlberechtigte8.289.900100,00
Quelle: Wahlkommission ISIE[1][12]

Wahlkreisergebnis

ParteienArBABiGbGfJeKaKsKbKfMhMnMdMoN1N2S1S2SBSiSoTaToT1T2ZaF1F2DeItE-AA-WGesamt
Ennahda32444324322334322342243243222121189
Kongress für die Republik111111111211111111111111111129
Volkspetition1111121111111111131111dq126
Ettakatol1121111111111112-1120
Progressive Demokratische Partei111111111111111116
Demokratisch-Modernistischer Pol1111-15
Die Initiative122-5
Afek Tounes1111-4
Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens111-3
Bewegung Sozialistischer Demokraten11-2
Volksbewegung11-2
Neo-Destur1-1
Freie Patriotische Union1-1
Liberale Maghrebinische Partei1-1
MOUPAD1-1
Fortschrittliche Unionsbewegung1-1
Für eine Nationale Tunesische Front1-1
Loyalität den Märtyrern1-1
Al Adala1-1
Parti de la nation culturel et unioniste1-1
Nationale Soziale Partei1-1
Partei der Sozialdemokratischen Nation1-1
Fortschrittlicher Kampf1-1
Wafa (Loyalität)1-1
Sawt Al Mostakol – Unabhängige Stimme1-1
Sozialer Aktivismus (unabhängig)1-1
Justice et Equite (unabhängig)1--1
Hoffnung (unabhängig)11-1
Unabhängige Liste1-1
Gesamtsitze für die Gouvenorate86109778985687997679861044985551322217
Quelle: Wahlkommission ISIE[1]

Unruhen

Am 27. Oktober, kurz nach Bekanntgabe der vorläufigen Ergebnisse, protestierten hunderte Anhänger der Volkspetition in Sidi Bouzid gegen die Aberkennung von acht ihrer ursprünglich 27 Sitze.[13] Das tunesische Militär trieb die Menge mit Warnschüssen und Tränengas auseinander, nachdem sie den Gouverneurssitz angegriffen haben sollen. Der Vorsitzende der Volkspedition, Hachemi Hamdi, gab bekannt, dass seine Partei aus Protest alle Mandate zurückgeben wolle.[14] Bei den Protesten kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei; in dem örtlichen Büro der Ennahda und dem Gebäude der Regionalverwaltung sollen Brände gelegt worden sein.[13]

Konstituierung

Am 15. November einigten sich Ennahda und die Kongresspartei auf Moncef Marzouki als Übergangspräsident.[15] Zuvor hatten sich die drei Koalitionsparteien Ennahda, CPR und Ettakatol darauf geeinigt, Hamadi Jebali von der Ennahda zum Ministerpräsidenten und Moustapha Ben Jaafar von der Ettakatol zum Präsidenten der Verfassunggebenden Versammlung zu wählen.[16]

Am 22. November trat die Verfassunggebende Versammlung erstmals zusammen. Die erste Sitzung begann mit dem Singen der Nationalhymne und dem Rezitieren der Fātiha, der ersten Sure des Koran, um der Opfer der Herrschaft Ben Alis zu gedenken.[17]

Am 11. Dezember 2011 verabschiedete sie eine Übergangsverfassung, die den Wahlprozess für die Übergangsregierung und die Regeln für Exekutive, Legislative und Judikative festlegte und so lange gelten sollte, bis eine endgültige Verfassung ausgearbeitet und ein neues Parlament gewählt war.[18] Am Tag darauf wählte sie Moncef Marzouki zum neuen Übergangspräsidenten.[19]

Politische Arbeit

Die Versammlung konnte ihren ursprünglichen Plan, innerhalb eines Jahres den Übergang in eine neue Ordnung zu schaffen, nicht einhalten. Die Ausarbeitung der Verfassung erwies sich als schwierig und wurde immer wieder von Streitigkeiten unterbrochen. Erst Anfang 2014 einigte sich die bisherige „Troika“-Koalition unter Führung der Ennahda auf einen Verfassungsentwurf. Dabei war Einfluss von außerhalb des Parlaments, insbesondere vom Gewerkschaftsverband UGTT, notwendig.[20] Am 26. Januar 2014 verabschiedete die Versammlung die neue Verfassung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit.[21]

Als Termin für die Wahl eines neuen Parlaments wurde im Juni 2014 unter der technokratischen Übergangsregierung Mehdi Jomaâs der 26. Oktober festgelegt, die Präsidentschaftswahl fand am 23. November und im zweiten Wahlgang am 21. Dezember 2014 statt.[22] Mit dem Zusammentritt des neuen Parlaments am 2. Dezember 2014 endete die Verfassunggebende Versammlung.[23]

Literatur

Weblinks

Commons: Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens 2011 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c Amtliches Wahlergebnis 2011 Wahlkommission ISIE
  2. Tunesien verschiebt Wahl für Verfassungsrat auf den 23. Oktober. In: Hamburger Abendblatt, 8. Juni 2011.
  3. Tunesien plant Wahl eines Verfassungsrats. In: Deutsche Welle, 4. April 2011.
  4. Tunisia President Fouad Mebazaa Calls Election. In: BBC.co.uk, 3. März 2011.
  5. a b Serge Halimi: Kompassnadel der Revolution: Im tunesischen Wahlkampf rechnen sich alle zur Mitte. In: Le Monde diplomatique, 14. Oktober 2011.
  6. Matthias Kolb: Tunesiens Zukunft in den Händen moderater Islamisten, sueddeutsche.de vom 21. November 2011, abgerufen am 8. Januar 2015.
  7. Decree N°35 dated May 10, 2011 on the Election of the National Constituent Assembly. PDF. In: Aceproject.org.
  8. Susanne Klaiber: Schicksalstag in Tunesien. Die Pioniere des Arabischen Frühlings wählen. In: Focus Online, 22. Oktober 2011.
  9. Louis Bonhoure: Low Youth, High Female Voter Turnout Observed in 2014 Vote. (Memento vom 30. Oktober 2014 im Internet Archive) In: Tunisia-Live.net, 30. Oktober 2014.
  10. Tunesier als erste Wähler des Arabischen Frühlings. Urnengang zur verfassunggebenden Versammlung. In Neue Zürcher Zeitung, 22. Oktober 2011.
  11. Tunisia. In: QuotaProject.org.
  12. tunisia-live.net (Memento vom 10. März 2012 im Internet Archive)
  13. a b Ausschreitungen in Sidi Bouzid. In: die tageszeitung, 28. Oktober 2011; Allan Bradley: Familiar Tunisian Parties Benefit From Aridha Disqualification. (Memento vom 17. Januar 2012 im Internet Archive) In: Tunisia-Live.net, 30. Oktober 2011.
  14. Militär feuert Warnschüsse ab. In: ORF.at, 28. Oktober 2011.
  15. Einigung auf Übergangspräsidenten in Tunesien. In: Neue Zürcher Zeitung, 16. November 2011.
  16. Jebali wird neuer Ministerpräsident. In: Spiegel Online, 22. November 2011.
  17. Mit Nationalhymne und Sure zum «Staat der Freiheit». In: Neue Zürcher Zeitung, 22. November 2011.
  18. Übergangsverfassung in Tunesien verabschiedet. In: Rheinische Post, 11. Dezember 2011.
  19. Marzouki wird erster demokratisch gewählter Präsident Tunesiens. In: Die Zeit, 12. Dezember 2011.
  20. Joachim Paul: Die tunesischen Parlamentswahlen: Ein Überblick über die wichtigsten Parteien. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Website), 21. Oktober 2014.
  21. Tunesien: Parlament stimmt für neue Verfassung. (Memento vom 29. Januar 2014 im Internet Archive) In: tagesschau.de, 26. Januar 2014; En Tunisie, la nouvelle Constitution adoptée. In: Le Monde, 26. Januar 2014 (französisch)
  22. Tunisie: Les législatives fixées au 26 octobre et la présidentielle au 23 novembre. In: Jeune Afrique, 25. Juni 2014.
  23. https://archive.today/2014.12.27-232624/http://www.france24.com/fr/20141202-rentree-premier-parlement-post-revolutionnaire-tunisien-nidaa-tounes-ennahda-tunisie-ali-ben-salem/ In: France 24, 2. Dezember 2014.

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