Vaterlandslose Gesellen

Vaterlandslose Gesellen war im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert unter Wilhelm II. ein Schimpfwort für die deutschen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Dieses Wort wird dem Kanzler Otto von Bismarck zugeschrieben, der Hintergrund dieser Bezeichnung liegt in einem Zitat aus dem Manifest der Kommunistischen Partei, darin heißt es wörtlich: Die Arbeiter haben kein Vaterland.

Der Ausdruck wurde zeitweilig auch für andere Gruppen benutzt. Im April 2004 wurde der Ausdruck vom SPD-Politiker Wolfgang Thierse als Schimpfwort für deutsche Unternehmen benutzt, die Arbeitsstellen ins Ausland verlagern. Seitdem wurde der Ausdruck auch in diesem Zusammenhang verwendet.

Schimpfwort gegen politisch Linke

Zur Zeit der Sozialistengesetze von Bismarck und unter Wilhelm II. bis zum Beginn der Burgfriedenspolitik wurden die deutschen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten als „Vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet. Schon in dieser Zeit wurden auch andere Gruppen als vaterlandslose Gesellen geschmäht. So nannte Anfang des 20. Jahrhunderts eine deutsche jüdische Gemeinde in Emden eine Ortsgruppe der Zionistischen Vereinigung in Gemeindeversammlungen „vaterlandslose Gesellen“ (siehe Geschichte der Juden in Ostfriesland).

Schon 1851 hat der Konservative Wilhelm Heinrich Riehl den vierten Stand, also die Arbeiterschaft, abwertend als vaterlandslos charakterisiert und dem Stand der Bauern gegenübergestellt: „Jene Geschichtslosigkeit und Vaterlandslosigkeit, welche man sonst bloß als das Ergebniß einer verschrobenen Schulstubenweisheit betrachtete, hat sich im vierten Stand in einer großen Volksschicht leibhaftig verkörpert. Es gibt daher keine größeren Gegensätze als den vierten Stand und die Bauern“.[1]

Ludwig Thoma benutzte 1913 den Ausdruck „Vaterlandslose Gesellen“ als Titel für ein Gedicht in seiner Sammlung „Peter Schlemihl“. Darin kritisiert er den Unterschied zwischen Arm und Reich und kehrt das Bild der „Vaterlandslosen Gesellen“ um, indem er den Reichen vorwirft, für sie habe das Vaterland nur materielle Bedeutung. Diese Argumentation war als Abwehrrhetorik der Sozialdemokratie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sehr oft anzutreffen. Großen Rüstungskonzernen der Kaiserzeit wurde immer wieder vorgeworfen, dass sich hinter ihren patriotischen Bekenntnissen lediglich Gewinninteressen verbergen würden. Gleichzeitige Belieferung der deutschen und britischen Marine durch deutsche Unternehmen in der Zeit des Wettrüstens zwischen beiden Ländern bestätigten solche Anschuldigungen.

1930 veröffentlichte Adam Scharrer einen gleichnamigen Roman, dessen Untertitel Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters lautete. Darin geht es vor allem um die proletarische „Heimatfront“, das Buch endet allerdings mit einer Revolution der Arbeiterklasse. Da der Roman als kommunistisch angesehen wurde, verschwand er – anders als in der DDR – im bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland aus dem Kanon der Kriegsliteratur. Andere Autoren interpretieren den Text indes als Protestliteratur.[2]

In den folgenden Jahrzehnten wurde der Ausdruck „Vaterlandslose Gesellen“ zum Symbol für die Unterdrückung und Ausgrenzung von Sozialdemokraten und der Arbeiterbewegung in der Bismarckzeit und darüber hinaus. Vereinzelt wird die Bezeichnung auch heute noch verwendet, überwiegend im originären Sinne gegen Gruppen oder Einzelpersonen des „politisch linken Lagers“, aber auch gegen als „unpatriotisch“ etikettiertes Verhalten in Wirtschaft und Gesellschaft.

Beispielsweise wurde der Vorsitzende der Partei Die Linke, Bernd Riexinger, am 8. Oktober 2012 in einem Kommentar der Stuttgarter Nachrichten als „vaterlandsloser Geselle“ bezeichnet, da er an einer Demonstration gegen den Besuch Angela Merkels in Athen teilnahm.[3]

Schimpfwort gegen Unternehmen

In einem Interview mit der Welt am Sonntag, für die Ausgabe vom 11. April 2004 benutzte Wolfgang Thierse den Ausdruck, in dem er über Unternehmen, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, sagte: „Sie sind in gewissem Sinne vaterlandslose Gesellen, weil sie in einem Widerspruch leben.“[4][5][6][7][8] Bereits am 22. März 2004 hatte SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter dem Vorsitzenden der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) Ludwig Georg Braun im MDR vorgeworfen, sich „vaterlandslos“ zu betätigen, nachdem Braun Unternehmen öffentlich empfohlen hatte, im Rahmen der EU-Osterweiterung Möglichkeiten der Internationalisierung und damit der Auslagerung von Arbeitsplätzen zu prüfen.[9] Die verbalen Attacken fallen in die Zeit einer Patriotismus-Debatte in der Union, wobei Benneter und Thierse einigen deutschen Unternehmen oder Unternehmern mangelndes Verantwortungsgefühl gegenüber Deutschland und/oder den Deutschen vorwarfen. Damit ging der Gebrauch des Ausdrucks der ebenfalls kapitalismuskritischen Heuschreckendebatte voraus, die der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering im April 2005 auslöste.

Der Ausdruck, der nun wieder näher an seiner wörtlichen Bedeutung eingesetzt wird, verbreitete sich in der Folge auch in der Öffentlichkeit. Als der Allianz-Konzern ankündigte, 5.000 Stellen abzubauen, schimpfte auch der DGB-Vorsitzende Michael Sommer in einem Interview mit der Oldenburger Nordwest-Zeitung am 24. Juni 2006, es gebe in Deutschland Unternehmen, „die sich als vaterlandslose Gesellen herausstellen“.[10][11]

Literatur

Zeitgenössische Literatur und deren Rezeption
  • Ludwig Thoma (1913): „Vaterlandslose Gesellen“. In: „Peter Schlemihl“.
Elektronische Kopie auf dem Projekt Gutenberg-DE
Elektronische Kopie im Nemesis-Archiv
  • Ulrich Dittmann: Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters Adam Scharrer: Vaterlandslose Gesellen (1930). In: Thomas F. Schneider und Hans Wagner (Hg.), Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. S. 375–386.
Geschichte der Sozialdemokratie
  • Dieter Groh, Peter Brandt: Vaterlandslose Gesellen. Sozialdemokratie und Nation, 1860–1990. C. H. Beck Verlag. München 1992, ISBN 3-406-36727-5.
  • Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Berlin 1973, ISBN 3-549-07281-3.

Einzelnachweise

  1. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Band 2: Die bürgerliche Gesellschaft. 1. Auflage. Cotta, Stuttgart / Tübingen, S. 274.
  2. Abstract auf ingentaconnect.com (Memento vom 25. März 2016 im Internet Archive) von Ulrich Dittmann. Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters Adam Scharrer: Vaterlandslose Gesellen (1930). In: Thomas F. Schneider und Hans Wagner (Hg.), Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. S. 375–386.
  3. Stuttgarter Nachrichten: Kommentar zu Linkspartei-Chef Riexinger (abgerufen am 10. Oktober 2012)
  4. 10. April 2004 "Vaterlandslose Gesellen" Bundestagspräsident Thierse übt scharfe Kritik an Unternehmern, die Standorte ins Ausland verlagern
  5. 11. April 2004 "Sehnsucht nach Erlösung" Der SPD-Programmatiker Wolfgang Thierse über "vaterlandslose Gesellen" in der Wirtschaft und die neue Bedrohung der Demokratie durch populistische Verführer - Interview
  6. 14. April 2004 Unanständig? Wirtschaft wehrt sich
  7. Thierse rügt Wirtschaft: "Vaterlandslose Gesellen"
  8. nz (12. April 2004). Thierse hält Unternehmer für «vaterlandslos». Netzeitung (Memento vom 30. April 2004 im Internet Archive) (abgerufen 5. Mai 2007)
  9. z. B. (23. März 2004). "Vaterlandslos" und "unpatriotisch". Focus (abgerufen 6. Mai 2007). Spiegel online berichtete hingegen am 22. März 2004, Benneter hätte Braun sogar als vaterlandslosen Gesellen bezeichnet: Job-Verlagerungen ins Ausland: Benneter beschimpft Industrie-Boss als vaterlandslosen Gesellen. Spiegel online (Abstract abgerufen 6. Mai 2007)
  10. "Vaterlandslose Gesellen": Sommer attackiert Allianz-Spitze n-tv.de, 24. Juni 2006.
  11. „Es gibt hier vaterlandslose Gesellen“. Artikel in der Nordwest-Zeitung vom 24. Juni 2006. Abgerufen am 14. Juli 2015.