Urindogermanische Kopula

Alle indogermanischen Sprachen haben ein Verb, das die Aufgabe einer Kopula wahrnimmt. Das lateinische Wort lateinisch copula „Verbindungsstück, das Verbindungsband, die Leine“ bedeutet in diesem Zusammenhang das „Verknüpfende“ oder „Verbindende“.

Definition und Aufgabe der Kopula im Satzbau

In der Sprachwissenschaft wird die Kopula verwendet, um das Subjekt eines Satzes mit einem Prädikat zu verknüpfen. Das Wort „Kopula“ stammt vom lateinischen Nomen für eine „Verbindung oder Kupplung“, die zwei unterschiedliche Dinge miteinander verbindet.

Im Satzbau wird die Kopula entweder „zweistellig“ oder „einstellig“ angewandt.

Beispiele

„Zweistellig“ angewandt verbindet die Kopula zwei Elemente mit der Bedeutung, dass sie gedanklich zusammengehören, einander gleichzusetzen (identisch) sind.

  • Sokrates war ein Mensch. (benannte Person gehörte zur Gattung „Menschen“.)
  • Fritz ist mein Vetter. (benannte Person gehört zur Verwandtschaft „Vettern“.)
  • Das Auto ist blau. (Gegenstand hat die = gehört zur Farbe „blau“)

„Einstellig“ angewandt (ohne ein zweites Element) bezeichnet eine Kopula einfach das Vorhandensein, die Existenz:

  • Ich denke, also bin ich.

Beugungsformen (Konjugation)

In ihren Beugungsformen ist die Kopula das unregelmäßigste Verb der indogermanischen Sprachen, einerseits, weil sie am meisten benutzt wird, und andererseits, weil Indogermanisch mehrere solcher Verben hatte, was in den Tochtersprachen dazu führte, dass aus konjugierten Formen verschiedener alter Verben neue Verben mit „mehrstämmiger Konjugation“ gebildet wurden. Beispielsweise kommen in der deutschen Verbgruppe „sein“ die Formen „sind, seid, sei“ vom selben Stamm wie der Infinitiv, nämlich „sein“, aber die Formen „bin, bist“ vom vormaligen Verb „birn“ und die Formen „war, wäre, gewesen“ vom vormaligen Verb „wesen“.

Das englische Verb „to be“ bildet ebenso eine unregelmäßige Sonderform mit acht möglichen Konjugationen. Diese sind: „be, am, is, are, being, was, were, been“ (sein, bin, ist, sind, seiend, war, waren, gewesen) und zusätzlich noch weiteren älteren Personalformen „art, wast, wert, beest“. Dabei sind „be, being, been, beest“ ebenso dem ehemaligen Verb „birn“ zuzuordnen, wie „was, wast, were, wert“ dem Verb „wesen“.

Die indogermanischen Wurzeln

*h₁es-

Die Wurzel *h₁es- war auf Urindogermanisch auf jeden Fall bereits eine Kopula. Die e-Stufe (siehe Ablaut) wird in Formen wie dem deutschen ist, Latein est, wieder angetroffen, während die Schwundstufe Formen hervorruft, die mit /s/ beginnen, wie deutsch sind oder französisch sommes. In der Ursprache war *h₁es- ein athematisches Verb auf -mi, also war die erste Person Singular*h₁esmi; diese Flexion überlebt im Englischen am, Sanskrit asmi, Latein sum, Altkirchenslawisch esmь, …usw.

Der Präsens Indikativ wird für die Indogermanische Ursprache normalerweise wie folgt rekonstruiert:

PersonSingularPlural
1*h₁és-mi*h₁s-més
2*h₁és-si*h₁s-th₁é
3*h₁és-ti*h₁s-énti

*bʰuH-

Die Wurzel *bʰuH- (wobei H für einen Laryngal unbekannter Qualität steht) bedeutet wahrscheinlich ‚wachsen, gedeihen‘, dann auch ‚entstehen, werden‘. Das ist die Quelle des englischen Infinitivs be und des Partizips been (germanische Partizipien enden auf -an) sowie, beispielsweise, der keltischen Futurform bithidh. Urindogermanisches /bʰ/ wird zu Latein /f/, also kommen das lateinische Partizip futūrus und der Perfektstamm fuī; Latein fiō ‚ich werde‘ (mit einer Modifikation) auch von dieser Wurzel, wie auch das griechische Verb φύω. Das Verb wurde wie folgt konjugiert:

PersonSingularPlural
1*bʰuH-yó-h₂*bʰuH-yó-me-
2*bʰuH-yé-si*bʰuH-yé-th₁e
3*bʰuH-yé-ti*bʰuH-yó-nti

*h₂ues-

Die Wurzel *h₂ues- bedeutete vielleicht ‚verweilen, wohnen, übernachten‘. Die e-Stufe zeigt sich im deutschen Partizip gewesen, die o-Stufe (*h₂uos-) überlebt im Englischen und Althochdeutschen was. (Die germanischen Flexionen mit /r/ wie waren resultieren aus einem grammatischen Wechsel.)

PersonSingularPlural
1*h₂ues-mi*h₂us-mes
2*h₂ues-si*h₂us-th₁e
3*h₂ues-ti*h₂us-enti

*h₁er-

(Die Wurzel *h₁er- bedeutete ‚bewegen‘. Es handelt sich um die Herkunft des altnordischen Präsensstamms.)

PersonSingularPlural
1**h₁er-mi**h₁r-mes
2**h₁er-si**h₁r-th₁e
3**h₁er-ti**h₁r-enti

Der altnordische Präsensstamm kann auch von der Wurzel *h₁es- abgeleitet sein, womit er sich viel besser in die Reihen der übrigen germanischen Sprachen einfügte. Dies würde auch erklären, warum die Formen der zweiten und dritten Person sg. ein s aufweisen. Die r-Formen können als Ergebnisse eines Rhotazismus erklärt werden.

*steh₂-

Die Wurzel *steh₂- bedeutet, wie leicht ersichtlich ist, ‚stehen‘. Latein stō, stare, das von dieser Wurzel kommt, behielt die Bedeutung ‚stehen‘, bis es im Vulgärlatein in gewissen Umständen zu einer Kopula wurde. Dieser Gebrauch überlebt in einigen romanischen Sprachen und dem Gälischen, die es als eine von zwei Kopulae benutzen, und in einigen Sprachen ersetzt auch das Partizip Perfekt der Wurzel *steh₂- das der eigentlichen Kopula.

PersonSingularPlural
1*steh₂-mi*sth₂-mes
2*steh₂-si*sth₂-tste
3*steh₂-ti*sth₂-enti

Die resultierenden Flexionen

Germanisch

AltnordischSchwedischAltenglischEnglischAlthochdeutschDeutschGotischNiederländisch
Infinitivveravarawesanbēonbewesanseinwisanzijn
Präsensem
ert (est)
er (es)
erum
eruð
eru
är
är
är
är
är
är
eom
eart
is
sint
sint
sint
bēo
bist
biþ
bēoþ
bēoþ
bēoþ
am
are (art)
is
are
are
are
bim
bis(t)
ist
sum(es), birum
sīt, birut
sint
bin
bist
ist
sind
seid
sind
im
is
ist
sijum
sijuþ
sind
ben
bent
is
zijn
zijn
zijn
Konjunktivsiá
sér

sém
séð
vore
vore
vore
vore
vore
vore
sīe
sīe
sīe
sīen
sīen
sīen
bēo
bēo
bēo
bēon
bēon
bēon
be
be
be
be
be
be

sīs(t)

sīm(es)
sī(n)t
sīn
sei
seist
sei
seien
seiet
seien
sijau
sijais
sijai
sijaima
sijaiþ
sijaina
zij
zij
zij
zijn
zijn
zijn
Präteritumvar
vast
var
várum
váruþ
váru
var
var
var
var
var
var
wæs
wǣre
wæs
wǣron
wǣron
wǣron
was
were (wast)
was
were
were
were
was
wāri
was
wārum
wārut
wārun
war
warst
war
waren
wart
waren
was
wast
was
wesum
wesuþ
wesun
was
was
was
waren
waren
waren
Partizip Perfektveritvaritgewesonġebēonbeengiwesangewesengewesuþgeweest

Latein und romanische Sprachen

LateinFranzösischSpanischItalienisch
Infinitivessestareêtreesterserestaresserestare
Präsenssum
es
est
sumus
estis
sunt
sto
stas
stat
stamus
statis
stant
suis
es
est
sommes
êtes
sont
este
estes
este
estons
estez
estent
soy
eres
es
somos
sois
son
estoy
estás
está
estamos
estáis
están
sono
sei
è
siamo
siete
sono
sto
stai
sta
stiamo
state
stanno
Konjunktivsimstemsoisesteseaestésiastia
Präteritumfuistetifusestaifuiestuvefuistetti
Imperfekteramstabamétaisestaiseraestabaerostavo
Futurerostaboseraiesteraiseréestarésaròstarò
Partizip Perfektn/astatumétéestésidoestadosutostato

Auf Altfranzösisch, Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch und Italienisch gibt es zwei Verbalbildungen, ser/èsser/essere aus esse ‚sein‘ und estar/stare aus stare ‚stehen‘.

Balto-slawische Sprachen

AltkirchenslawischUkrainischObersorbisch[1]Niedersorbisch[2][3]Tschechisch[4][5]Slowakisch[6]
Infinitivbytibutybyćbyśbýtbyť
Präsensesmь
esi
estь
esmъ
este
sǫtъ
je
je
je
je
je
je
sym
sy
je
smy
sće
su
som
sy
jo
smy
sćo
su
jsem
jsi, jseš
je
jsme
jste
jsou
som
si
je
sme
ste
Imperfekt

běaše


běaxǫ
běch
běše
běše
běchmy
běsće
běchu
běch
běšo
běšo
 
 
 
Imperfekt
Aorist
běxъ


běxomъ
*běste
běšę
běch


běchmy
běsće
běchu
Futurbǫdǫ
bǫdeši
bǫdetъ
bǫdemъ
bǫdete
bǫdǫtъ
budu
budeš
bude(t′)
budem(o)
budete
budut′
budu
budźeš
budźe
budźemy
budźeće
budu
budu
buźoš
buźo
buźomy
buźośo
budu
budu
budeš
bude
budeme
budete
budou
budu
budeš
bude
budeme
budete
budú
Imperativ
bǫdi
bǫdi
bǫděmъ
bǫděte
bǫdǫ

buvaj/bud′

buvajmo/bud′mo
buvajte/bud′te

budź


budźće

buź


buźćo

buď


buďte
Perfekt Aoristbyxъ
by(stъ)
by(stъ)
byxomъ
byste
byšę
bych, buch
by, bu
by, bu
 
 
 
Partizip
Präsens
sy m.
sǫšti f.
sy n.
buvajučyj m.
buvajuča f.
buvajuče n.
buducy
Partizip
Resultativ
bylъ m.
byla f.
bylo n.
był m.
była f.
było n.
był m.
była f.
było n.
byl m.
byla f.
bylo n.
bol m.
bola f.
bolo n.
Partizip
Perfekt
Aktiv
byvъ m.
byvъši f.
byvъ n.
Partizip
Perfekt
Passiv
buvšyj m. ("former" adj.)
buvša f.
buvše n.
byvší,
byvšia,
byvšie (veraltet)
Lettisch[7][8]Litauisch[9]
Infinitivbūtbūti
Präsensesmu
esi
ir
esam
esat
ir
esù
esì
yrà
ẽsame
ẽsate
yrà
Präteritumbiju
biji
bija
bijām
bijāt
bija
buvaũ
buvaĩ
bùvo
bùvome
bùvote
bùvo
Imperfektbūdavau
būdavai
būdavo
būdavome
būdavote
būdavo
Futurbūšu
būsi
būs
būsim
būsit, būsiet
būs
būsiu
būsi
bùs
būsime
būsite
bùs
Imperativesi!
esiet!
būk!
būkime!
būkite

Keltische Sprachen

In den frühesten bezeugten keltischen Sprachen wurde zwischen dem sogenannten Verbum substantivum und der Kopula unterschieden.

Die Flexion auf Altirisch und Mittelwalisisch geht wie folgt:

Altirisches Verbum subst.Altirische KopulaMittelwalisisch
Präsens(at)·tó
(at)·taí
(at)·tá
(at)·taam
(at)·taïd
(at)·taat
am
at
is
ammi
adib
it
wyf
wyt
yw, mae, taw, oes
ym
ywch
ynt, maen(t)
Präteritum·bá
·bá
·boí
·bámmar
·baid
·bátar
basa
basa
ba
bommar
nicht belegt
batar
buum
buost
bu
buam
buawch
buant
Futurbia
bie
bieid, ·bia
beimmi, ·biam
bethe, ·bieid
bieit, ·biat
be
be
bid
bimmi
nicht belegt
bit
bydaf
bydy
byd
bydwn
bydwch
bydant

Literatur

  • Michael Meier-Brügger, Matthias Fritz, Manfred Mayrhofer: Indogermanische Sprachwissenschaft. Walter de Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-025143-2.
  • Norbert Oettinger: In den Fußspuren Emil Forrers: Die Diathese von indogermanisch h1e:s-, h1es- „sitzen“ und anderes. In: D. Groddek (Hrsg.): Sarnikzel. Hethitologische Studien zum Gedenken an Emil Orgetorix Forrer. Techn. Univ., Dresden 2004, (= Dresdner Beiträge zur Hethitologie. Band 10), S. 487–494.

Weblinks

  • Rosemarie Lühr: Kopulasätze in altindogermanischen Sprachen. In: Ljudmila Geist, Björn Rothstein (Hrsg.): Kopulaverben und Kopulasätze Intersprachliche und intrasprachliche Aspekte. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007, Sonderdruck aus LA 512, ISBN 978-3-484-30512-0, S. 181–199 (Online, PDF)

Einzelnachweise

  1. Wörterbuch Obersorbisch-deutsch. ISBN 3-7420-0419-0, S. 36.
  2. Niedersorbisch-deutsches Wörterbuch. ISBN 3-7420-1096-4, S. 57.
  3. Ernst Mucke: Wörterbuch der niederwendischen Sprache und ihrer Dialekte. Band I, ISBN 978-3-7420-2091-8, S. 102.
  4. Taschenwörterbuch Tschechisch. ISBN 978-3-468-11363-5, S. 38.
  5. Kauderwelsch. Band 32, Tschechisch Wort für Wort. 7. Auflage 2004, ISBN 3-89416-058-6, S. 30, 33–35.
  6. Kauderwelsch. Band 81, Slowakisch Wort für Wort. 4. Auflage 2002, ISBN 3-89416-272-4, S. 31, 36, 38.
  7. Berthold Forssmann: Wörterbuch Lettisch-Deutsch, Deutsch-Lettisch. ISBN 978-3-934106-58-1, S. XXXV.
  8. Die baltischen Sprachen. ISBN 3-324-00605-8, S. 315–320.
  9. Die baltischen Sprachen. ISBN 3-324-00605-8, S. 169–172.