Subsidiaritätsprinzip (Verfassungsprozessrecht)

Unter Subsidiaritätsprinzip versteht man im Verfassungsprozessrecht eine Abfolge, wonach eine bestimmte Verfahrenshandlung erst nachrangig nach einer anderen Verfahrenshandlung zulässig ist.

Verfassungsbeschwerde zum BVerfG

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt das Subsidiaritätsprinzip in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck.[1] Verletzt der Beschwerdeführer das Subsidiaritätsprinzip, ist seine Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig.[2] Sie hat deshalb keine Aussicht auf Erfolg und wird in der Regel nicht zur Entscheidung angenommen (Abweisung a limine).[3]

Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet zweierlei: Zum einen muss der Beschwerdeführer[4] alles ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird.[5] Es verlangt, dass der Beschwerdeführer den fachgerichtlichen Rechtsweg formal durchlaufen und alle zumutbaren Möglichkeiten zur Abhilfe seiner grundrechtlichen Beschwer unternommen hat.[6] Zum anderen enthält das Subsidiaritätsprinzip eine grundsätzliche Aussage über das Verhältnis der Fachgerichte zum Bundesverfassungsgericht. Nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung haben zunächst die Fachgerichte die Aufgabe, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen.[7] Dadurch soll vor allem gewährleistet werden, dass dem Bundesverfassungsgericht infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die sachnäheren Fachgerichte vermittelt werden.[8]

Der Beschwerdeführer muss schon im fachgerichtlichen Instanzenzug die Gründe für die behauptete Grundrechtsverletzung vortragen, auf die er später seine Verfassungsbeschwerde stützt.[9] Anderenfalls ist der Rechtsweg im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nicht erschöpft.[10] Will der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend machen (Art. 103 Abs. 1 GG), muss er also zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips grundsätzlich zunächst eine Anhörungsrüge einlegen, um das Fachgericht zur Aufhebung seiner offensichtlich fehlerhaften Entscheidung zu bewegen.[11]

Wird die Rüge einer Gehörsverletzung jedoch weder ausdrücklich noch der Sache nach zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht oder wird die zunächst wirksam im Verfassungsbeschwerdeverfahren erhobene Rüge einer Gehörsverletzung wieder zurückgenommen, hängt die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechtswegerschöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahrens ab.

Aus Gründen der Subsidiarität müssen Beschwerdeführer allerdings zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, bei der sie sich nicht auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG berufen, eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden.[12] Das Subsidiaritätsprinzip muss in diesem Fall allerdings nur insoweit zurückweichen, als die Erschöpfung des Rechtswegs ausnahmsweise unzumutbar wäre.[13]

Das Subsidiaritätsprinzip ist auch beim vorläufigen Rechtsschutz zu beachten. Wird vorläufiger Rechtsschutz endgültig abgelehnt, kann diese Ablehnung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Dies gilt vor allem dann, wenn der Beschwerdeführer Grundrechtsverletzungen rügt, die gerade darauf beruhen, dass eine Eilentscheidung nicht ergangen ist. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn das Hauptsacheverfahren ausreichende Möglichkeiten bietet, die behauptete Grundrechtsverletzung zu beseitigen. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn der Beschwerdeführer Grundrechtsverletzungen behauptet, die sich auf die Hauptsache beziehen.[14]

Beispiel

Die enorme juristische Reichweite des Subsidiaritätsprinzips zeigte sich besonders anschaulich im Fall Edathy: Eine Verfassungsbeschwerde Edathys gegen die Durchsuchung seiner Wohnung am 10. Februar 2014 trotz seiner fortbestehenden Immunität wurde am 15. August 2014 von der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen, da Edathy sowohl die Fehlerhaftigkeit des Vorgehens der Justiz als auch die Fehleinschätzung des Präsidenten des Deutschen Bundestages ohne weiteres habe erkennen können. Edathy hätte diese Fehler deswegen bereits vor Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde rügen müssen. Da Edathy indes solche Rügen unterlassen hatte, ging er seiner geltend gemachten Rechte im Ergebnis verlustig.[15]

Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR

Das Subsidiaritätsprinzip gilt auch für die Menschenrechtsbeschwerde[16] zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.[17] Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschwerde zum EGMR ergeben sich im Übrigen aus Art. 35 EMRK.[18] Politisch umstritten ist im Jahr 2018 die restriktive Haltung des EGMR in Bezug auf Menschenrechtsbeschwerden aus der Türkei.[19]

Individualbeschwerde zu den Landesverfassungsgerichten

Das Subsidiaritätsprinzip gilt auch, soweit die jeweiligen Landesverfassungen Individualbeschwerden[20] zu den jeweiligen Landesverfassungsgerichten zulassen.[21] Die prozessuale Rechtsgrundlage etwa für die Verfahren vor dem BayVerfGH sind hierbei die Vorschriften des BayVerfGHG.[22] Eine solche Beschwerde ist hierbei parallel neben der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG statthaft.

Literatur

  • Ingo-Jens Tegebauer: Die Anhörungsrüge in der verfassungsgerichtlichen Praxis, DÖV 2008, 954–958
  • Klaus Schlaich, Stefan Korioth: Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen. 9. Auflage, C.H. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63408-6.
  • Roland Fleury: Verfassungsprozessrecht. 9. Auflage, Vahlen Verlag, München 2012, ISBN 978-3-8006-3967-0.
  • Gertrude Lübbe-Wolff: Substantiierung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, EuGRZ 2004, 669 ff.
  • Theodor Maunz (Begr.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar. 2 Bände, Loseblatt-Ausgabe, C.H. Beck Verlag, München 1964–2007, ISBN 978-3-406-56744-5.
  • Rüdiger Zuck: Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz. C.H. Beck, München 1968.
  • Michael Sachs: Verfassungsprozessrecht, Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, Rnrn. 584 ff, Verlag utb. in Gemeinschaft mit Mohr Siebeck, 4. Auflage 2016, ISBN 978-3-8252-4705-8
  • Ernst Benda, Eckart Klein, Oliver Klein: Verfassungsprozessrecht. Ein Lehr- und Handbuch. 3. Auflage. C.F. Müller, Heidelberg 2012.
  • Christian Burkiczak, Franz-Wilhelm Dollinger, Frank Schorkopf (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Heidelberger Kommentar, Neuausgabe, C.F. Müller Verlag, Heidelberg, 2015, ISBN 978-3-8114-3815-6.
  • Stephan Motzer: Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nach Paragraph 90 BVerfGG (Dissertation 1979)
  • Helge Sodan: Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, DÖV 2002, 925 ff
  • Dieter C. Umbach, Thomas Clemens, Franz-Wilhelm Dollinger (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch. 2. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2005, ISBN 978-3-8114-3109-6.
  • Reinhard Warmke: Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Dissertation 1993)
  • Rüdiger Zuck: Das Recht der Verfassungsbeschwerde. 4. Auflage, C.H. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-63555-7.
  • Hans Lechner, Rüdiger Zuck: Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG). Kommentar. 6. Auflage, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61112-4.
  • Herbert Posser: Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, Duncker & Humblot, 1993, ISBN 3428077822
  • Matthias Dombert: Verfassungsbeschwerde: Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität. In: Anwaltsblatt 2014, Heft 12, S. 1011–1014.
  • Peters/Markus: Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, JuS 2013, 887 ff
  • Marc Desens: Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde und ihr Verhältnis zu fachgerichtlichen Anhörungsrügen, NJW 2006, 1243

Weblinks

Einzelnachweise

  1. BVerfGE 22, 287
  2. Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde. Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, 4. Auflage 2013, Rn. 28 ff.
  3. Beispiel: BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13
  4. In Entscheidungen des BVerfG üblicherweise mit Bf. abgekürzt
  5. BVerfGE 78, 58
  6. Bayerischer Verfassungsgerichtshof: VerfGH München, Entscheidung v. 10. Dezember 2019 - Vf. 20-VI-19. In: gesetze-bayern.de. 10. Dezember 2019, abgerufen am 12. Oktober 2020.
  7. BVerfGE 68, 334
  8. BVerfGE 79, 1, 20; 86, 382, 386 f.; 114, 258, 279
  9. Rechtslupe: Verfassungsbeschwerde gegen BGH-Entscheidungen – und noch keine Rechtswegerschöpfung vom 22. März 2018
  10. BVerfGE 107, 257
  11. Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 4. Auflage 2013, zur Anhörungsrüge Rn. 754 ff.
  12. Klaus Ferdinand Gärditz: Übersicht zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde.
  13. Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde. Die ungeschriebenen Ausnahmen, 4. Auflage 2013, Rn. 785 ff.
  14. BVerfGE 104, 65
  15. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 15. August 2014, Az. 2 BvR 969/14, Rn. 35
  16. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Webseite zur EMRK
  17. Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, Verfassungsbeschwerde und sonstige Rechtsbehelfe, 4. Auflage 2013, Rn. 275 ff.
  18. Art. 35 Abs. 1 EMRK lautet: „Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (...) befassen.“
  19. Markus Sehl: DAV-Konferenz zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, Wo bleibt der EGMR? vom 6. März 2018
  20. Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 30. Mai 2012, Vf. 45-VI-11: „Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Nach Art. 51 Abs. 2 Satz 1 VfGHG kann die Verfassungsbeschwerde erst dann erhoben werden, wenn der fachgerichtliche Rechtsweg erschöpft worden ist.“
  21. Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, Verfassungsbeschwerde und Verfassungsgerichtsbarkeit, 4. Auflage 2013, Rn. 215 ff.
  22. Gesetzestext Art. 51 Abs. 2 S. 1 BayVerfGHG lautet: "Ist hinsichtlich des Beschwerdegegenstands ein Rechtsweg zulässig, so ist bei Einreichung der Beschwerde nachzuweisen, daß der Rechtsweg erschöpft worden ist."