Sichtbeton

Bahnhof Zürich Altstetten
Komplexe Formen: Hochhaus zur Palme
Im Garden of Fine Art (Kyoto) von Tadao Andō
Sichtbeton-Holzbauweise bei einem Einfamilienhaus
phæno Wolfsburg
Goetheanum in Dornach
Sandgestrahlter Sichtbeton an der Fassade der Chapel of the Holy Cross in Sedona (Arizona)

Sichtbeton ist Beton, der nicht verputzt oder verblendet wird und dessen Ansichtsflächen meist gestalterische Funktionen erfüllen. Besonders ausgeprägt und namensgebend ist das gestalterische Element im Brutalismus.

Geschichte

Sichtbeton im Kirchenbau

Im Kirchenbau kam erstmals in großem Maßstab Stahlbeton als Sichtbeton in den Jahren 1908 bis 1910 in der Lutherkirche in Bad Steben und der Ulmer Pauluskirche zur Anwendung.[1] Das Freiburger Bauunternehmen Brenzinger & Cie. errichtete ab 1929 unter dem Architekten Carl Anton Meckel die Kirche St. Konrad als eine der ersten mit einer Fassade aus Sichtbeton.[2]

Die Basler Antoniuskirche wurde zwischen 1925 und 1927 als erste reine Betonkirche der Schweiz vom Zürcher Architekturprofessor Karl Moser und der Baufirma G. Doppler und Sohn in schalungsrohem Sichtbeton erbaut. Der Bau steht seit 1987 unter Denkmalschutz und musste wegen Verwitterungsschäden zwischen 1981 und 1991 aufwendig restauriert werden.[3]

Le Corbusiers berühmte Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp wurde 1955 im Sichtbeton erstellt und ist heute auch ein Pilgerort für Kunsthistoriker und Architekturstudenten. Die bekannteste Sichtbetonkirche in Deutschland ist der 1966 von Gottfried Böhm errichtete Nevigeser Wallfahrtsdom.

Weitere frühe Sichtbeton-Bauten

Als Stahlbetonbau mit Sichtbetonfassade wurde 1925 bis 1928 in Dornach das zweite Goetheanum errichtet.[4] Ernst Otto Oßwalds 1928 fertiggestellter Stuttgarter Tagblatt-Turm markiert einen technologischen Übergang, bei dem die ursprüngliche Sichtbetonfassade noch von Steinmetzen nachbearbeitet wurde.[5]

Verwendung

Normalerweise ist hiermit eine Art zu betonieren gemeint, die betont die ausgewählte Struktur einer Schalung zu Gesicht bringt. Oberflächennahe Schichten werden mit besonders feinem Beton ausgeführt, der aufgrund seiner Fließfähigkeit und Feinheit die Geometrie und Oberfläche seiner ehemaligen Schalungsbegrenzung gut abbilden kann. Für die Schalungen zum Sichtbeton werden verschiedenst gestaltete Flachmaterialien eingesetzt, Wellenmuster, Sägezahn-Profile und anderes.

Auch künstlerische Techniken machen Gebrauch von Sichtbeton; mit Sichtbeton zu arbeiten ist eine besondere Ausprägung der Bildhauerei. Häufig wird Sichtbeton mit Holz kombiniert, da sich beide Materialien gut ergänzen.

Jedoch ist im einfachen Fall auch der Brückenpfeiler der Autobahn, an den keine besonderen „kosmetischen“ Anforderungen gestellt werden, für den aber von Seiten der Autobahnämter eine Sichtbetonqualität gefordert wird, ein Sichtbeton, da er sich in der Regel unverputzt und unverkleidet präsentiert: die Oberflächen-Strukturen der Schalungsplatten und -Hölzer lassen sich oftmals gut in der Beton-Oberfläche erkennen.

Klassen

In dem Merkblatt Sichtbeton des Deutschen Beton- und Bautechnik-Vereins gibt es vier Sichtbeton-Klassen. Entsprechend diesen Klassen werden Anforderungen an geschalte Sichtbetonflächen definiert. Diese betreffen die Schalhaut (Textur), Arbeits- und Schalhautfugen sowie die Porigkeit, Farbtongleichmäßigkeit und Ebenheit des Betons. Zusätzlich werden Anforderungen bezüglich einer Erprobungsfläche und der Schalhautklasse den Sichtbetonklassen zugeordnet.[6]

AnforderungenSichtbetonklasseBeispiel
geringSB 1Kellerwände oder Bereiche mit vorwiegend gewerblicher Nutzung
normalSB 2Treppenhausräume, Stützwände
besondersSB 3Fassaden im Hochbau
besonders hochSB 4repräsentative Bauteile im Hochbau

Contex-Verfahren

In den Jahren 1920 bis 1930 kamen auch erste gestalterisch verwendete Sichtbetonflächen für den Außenbau auf, wie zum Beispiel bei Michael Rosenauers Dorotheum-Fünfhaus in Wien oder Hermann Reinhard Alkers Altes Stadion in Karlsruhe. Die Oberfläche aus Ortbeton wurde dabei nach dem in den USA entwickelten Contex-Verfahren (abgeleitet von dem Wort concrete-texture)[7] bearbeitet.[8] Das sogenannte Contex-Verfahren ist eine Oberflächenbehandlung, bei der der grobkörnige Beton mittels eines „lackartigen Anstrichs“[9] behandelt wird, so dass durch Bürsten und Waschen das äußerste Zement-Sand-Gemisch großflächig entfernt wird, um die Zuschlagstoffe besser zur Geltung zu bringen.[10][11] Es handelt sich dabei um einen Vorläufer der vor allem in den 1960er und 1970er Jahren gebräuchlichen Waschbetonfertigteile.

Weitere Formen sichtbaren Betons

  • Fotobeton – ein modernes Verfahren, Bilder und Ornamente in Beton zu „gravieren“
  • Strukturbeton – Sichtbeton, der durch spezielle Schalungen eine Struktur erhält
  • Waschbeton – Beton, bei dem die Gesteinskörnung (meistens Mittelkies) durch eine spezielle Oberflächenbehandlung freigelegt wird

Literatur

  • Angela Weyer, Pilar Roig Picazo, Daniel Pop, JoAnn Cassar, Aysun Özköse, Jean-Marc Vallet, Ivan Srša (Hrsg.): EwaGlos, European Illustrated Glossary Of Conservation Terms For Wall Paintings And Architectural Surfaces. English Definitions with translations into Bulgarian, Croatian, French, German, Hungarian, Italian, Polish, Romanian, Spanish and Turkish. (= Series of publications by the Hornemann Institute. Volume 17). Michael Imhof, Petersberg 2015, ISBN 978-3-7319-0260-7, S. 46 (elearn.hawk-hhg.de).
  • Joachim Schulz: Sichtbeton – Planung (Kommentar zur DIN 18217 Betonflächen und Schalungshaut). Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-8348-0203-3.
  • opus C – Planen & Gestalten mit Beton. Fachzeitschrift für Sichtbeton
  • Geraldine Buchenau: zur Geschichte von betonbauten, in: Denkmalpflege, 77.2019/1, S. 75–76.
  • Joachim Schulz: Sichtbeton – Mängel (Gutachterliche Einstufung, Mängelbeseitigung, Betoninstandsetzung). Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-528-01761-3.
  • Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 306–310.
  • Joachim Schulz: Sichtbeton – Atlas. Planung – Ausführung – Beispiele. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8348-0261-3.
  • Joachim Schulz: Handbuch Sichtbeton. Beurteilung + Abnahme. Bau + Technik, Erkrath 2010, ISBN 978-3-7640-0531-3.

Weblinks

Commons: Sichtbetonfassaden – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Günther Döring: Die Lutherkirche in Bad Steben. In: Der Präsidialbau der Regierung von Oberfranken und seine Epoche. Hanns Michael Scholler, Bayreuth 2006, ISBN 3-00-017544-X
  2. Werner Wolf-Holzäpfel: Der Architekt Max Meckel 1847–1910. Studien zur Architektur und zum Kirchenbau des Historismus in Deutschland. Josef Fink, Lindenberg 2000, ISBN 3-933784-62-X, S. 257 f.
  3. Mehr als eine Architekturikone. (Memento desOriginals vom 30. Dezember 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.kirche-heute.ch Kunsthistorischer Rundgang in der Basler Antoniuskirche
  4. Hans Hasler: Das Goetheanum. Eine Führung durch den Bau, seine Umgebung und seine Geschichte. Verlag am Goetheanum, Dornach 2005, ISBN 3-7235-1258-5.
  5. Almut Escher: Ortstermin. Baulücke legt bauzeitliche Oberfläche frei. Einblicke in die Herstellungstechnologie des Stuttgarter Tagblattturms. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege 50. Jg., 2021, S. 55–56 (PDF; 0,2 MB)
  6. gemäß Merkblatt Deutscher Beton- und Bautechnik-Verein E. V.
  7. vgl. Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 310.
  8. vgl. http://delibra.bg.polsl.pl/Content/15056/P-390_1927_16.pdf
  9. vgl. Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 310.
  10. vgl. https://diglib.tugraz.at/download.php?id=576a8db20b8af&location=browse
  11. vgl. Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 310.

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Freitragende Auffahrt für Automobile auf das Dach des Hochhauses zur Palme, Bleicherweg 33, Zürich, Schweiz
Die damals kühne Konstruktion musste nachträglich abgestützt werden (links im Bild), weil beim Befahren unangenehme Schwingungen auftraten.
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