Schriftgelehrter

Ein Schriftgelehrter (hebräisch סוֹפֵרsofēr, altgriechisch γραμματεύςgrammateús) war in der Antike ein Kenner der heiligen Schriften des Judentums. Der Begriff ist vor allem durch Martin Luthers Bibelübersetzung bekannt. Er wurde von Luther zwar nicht neu geschaffen, aber von ihm geprägt: vor Luther bezeichnete es den literarisch oder juristisch Gebildeten, in der Lutherbibel den jüdischen Gelehrten. Im Zuge der Rezeption der Lutherbibel kann „Schriftgelehrter“ in der Neuzeit zur leicht ironischen Bezeichnung eines (christlichen) Theologen werden oder eine Person mit eher oberflächlicher, angelesener Bildung bezeichnen.[1]

Schriftgelehrte im Judentum und Tanach

Das Judentum bezieht seine autochthone kulturelle und vor allem religiöse Identität aus dem Sinnverständnis der „heiligen Texte“, etwa der Tora.[2] In der Zeit während und nach dem babylonischen Exil (587/586–538 v. Chr.) wurde die verschriftliche Tora kompiliert, sie war die historische Voraussetzung für ein Schriftgelehrtentum. Schriftgelehrte waren mit dem jüdischen Tempel verbunden und einige von ihnen hatten auch Sitze im Sanhedrin. So waren die ersten professionalisierten Schreiber, Sofer (hebräisch סֹפֵר), eben die hochgebildeten Schriftgelehrten, die im Dienste des Jerusalemer Tempels standen. Ab ca. 200 v. Chr. wuchs ihr Einfluss auf die religiöse und kultische Literatur.[3] Die Gruppe dieser Lehrer fand man bei den offiziellen Tempelpriestern (aus dem Stamm Levi, vgl. Kohen), ebenso aber in den einzelnen jüdischen Strömungen, wie z. B. bei den Essenern, Sadduzäern und besonders den Pharisäern.[4][5] Sie wurden mit dem Ehrentitel Rabbi angeredet.

Im Neuen Testament

Auch Lehrer, die Jünger um sich scharten, wie Jesus von Nazaret, wurden Rabbi genannt.[6] Das Neue Testament berichtet zudem von christlichen Schriftgelehrten (z. B. Mt. 8, 19 und 23, 34–36), grenzt sie aber klar von Propheten und Weisen ab. Somit sind die Begriffe „Rabbiner“ und „Schriftgelehrter“ nicht völlig deckungsgleich, aber eng verwandt. Im Christentum des Neuen Testaments ging der Begriff des Lehrers weitgehend im Apostelamt auf, da der Lehrer die Schrift auslegt (z. B. Paulus von Tarsus), während die Lehre in den Hauskirchen nur verbreitet wurde. Zuweilen betätigten sich aber auch Gemeindeälteste als Lehrer (umfangreichere Lehrabschnitte finden sich dazu in den neutestamentlichen Schriften Römerbrief und Apostelgeschichte).

Das Selbstverständnis und die Aufgaben von Schriftgelehrten des Alten Testaments bis zur Zeit Jesu sind im Artikel Rabbiner beschrieben.

Literatur

  • Christine Schams: Jewish Scribes in the Second-Temple Period. Sheffield Academic, Sheffield 1998, ISBN 1-85075-940-5.
  • Marlis Gielen: Schriftgelehrte. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 9. Herder, Freiburg im Breisgau 2000, Sp. 264–265.
  • Helge Stadelmann: Ben Sira als Schriftgelehrter. Eine Untersuchung zum Berufsbild des vor-makkabäischen Sofer unter Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Priester-, Propheten- und Weisheitslehrertum. Mohr Siebeck, Tübingen 1980, ISBN 3-16-143511-7.
  • Hans-Friedrich WeißSchriftgelehrte. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 511–520.
  • Anthony J. Saldarini: Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society: A Sociological Approach. Eerdmans, Grand Rapids 2001, ISBN 0-8028-4358-1.
  • Martin Jacobs: Schriftgelehrte. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 7, Mohr-Siebeck, Tübingen 2004, Sp. 1006.

Weblinks

Wiktionary: Schriftgelehrter – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: schriftgelehrt. In: Deutsches Wörterbuch. Band 15, Hirzel, Leipzig 1899, Spalten 173.
  2. siehe hierzu auch Literalität
  3. Martin Hengel: „Schriftauslegung“ und „Schriftwerdung“ in der Zeit des Zweiten Tempels. In: Martin Hengel, Helmut Löhr: Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 73), Mohr, Tübingen 1994, ISBN 3-16-146172-X, S. 8 f.
  4. „Sie bejahten die mündliche Tradition und Auslegung der Schriftgelehrten, von denen eine nicht geringe Zahl zu den Pharisäern gehörte und die sich bemühten, durch allegorische und kasuistische Schriftauslegung alle Bereiche des Lebens unter die Ordnung des Gesetzes zu stellen.“ (Martin Metzger: Grundriß der Geschichte Israels. 5. Auflage Neukirchen-Vluyn 1979, S. 175)
    Es bilden die „nichtpriesterlichen Schriftgelehrten ... ihre Führungsgruppe“. (Walter Grundmann, Johannes Leipoldt (Hrsg.): Umwelt des Urchristentums. Bd. 1: Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, 6. Aufl. Berlin 1982, S. 270;
    ebenso: Hans Conzelmann, Andreas Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament. 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 141)
  5. [1]
  6. Ernst Aebi: Kurze Einführung in die Bibel. Verlag Bibellesebund, Winterthur / Marienheide, ISBN 3-87982-081-3.