Revolutionäre Zellen (Deutschland)

Eines der verwendeten Logos der Revolutionären Zellen

Die Revolutionären Zellen (RZ) waren eine linksextremistische Terrorgruppe[1][2] in Deutschland. Sie waren von den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein aktiv und begriffen sich als Teil der Autonomen Bewegung. In den RZ kristallisierten sich zwei verschiedene Strömungen heraus: Ein Teil war – ähnlich wie die Rote Armee Fraktion (RAF) – antiimperialistisch orientiert, während ein anderer Teil einen sozialrevolutionären Ansatz vertrat. Zwischen beiden Flügeln gab es heftige Auseinandersetzungen, so dass ihre größte Gemeinsamkeit neben dem Namen ihre dezentrale Organisationsform war. Die Rote Zora war eine Frauengruppe, die sich in diesem Zusammenhang organisierte. Die Jugendorganisation der Revolutionären Zellen nannte sich Revolutionäre Viren.[3]

Profil

Anders als die RAF wollten die RZ-Mitglieder nicht aus dem Untergrund agieren, sondern in der Legalität leben und arbeiten. Sie blieben bei ihren Anschlägen anonym, um weiterhin in legalen politischen Organisationen mitarbeiten und an Diskussionsprozessen innerhalb der Linken und der Gesellschaft teilnehmen zu können. Im Gegensatz zur RAF waren die RZ nicht straff organisiert, sie organisierten sich stattdessen in kleinen Zellen ohne zentrale Führung. Ihre dezentrale Organisationsform wurde vereinzelt auch als „Guerilla Diffusa“ bezeichnet.[4] Auf Grund dieser Organisationsstruktur wurden die RZ gelegentlich als Feierabendterroristen bezeichnet. Ihre Vorgehensweise schützte sie jedoch lange Zeit vor dem Zugriff durch den Staat. Bis 1999 gab es laut Äußerungen aus Ermittlerkreisen kaum verwertbare Erkenntnisse über die RZ und nur wenige Verurteilungen.

Erst durch die Verhaftung des OPEC-Attentäters und RZ-Mitglieds Hans-Joachim Klein 1998 erfuhren die Ermittler etwas über deren interne Strukturen. 1999 wurde deshalb Rudolf Schindler festgenommen. Ab 2001 wurden Schindler und andere Personen (darunter der ehemalige Leiter des Akademischen Auslandsamtes der TU Berlin Matthias Borgmann, die Galeristin Sabine Eckle sowie die Mehringhof-Aktivisten Harald Glöde und Axel Haug) in Berlin wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a StGB angeklagt.[5][6] 2004 wurde Schindler gemeinsam mit seiner Frau Eckle zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt; das ehemalige Mitglied Tarek Mousli[7] trat im Prozess als Kronzeuge auf und erhielt Haftverschonung.[8] Harald Glöde wurde nach 18 Monaten Untersuchungshaft freigelassen[9] und ebenfalls vom Berliner Kammergericht wegen Mitgliedschaft bei den RZ verurteilt.[10]

Aus dem Umfeld der RZ wurde die Zeitung Revolutionärer Zorn herausgegeben. Nachdem 1978 die Antiterrorismusgesetze auch auf das Druckwesen Anwendung fanden, wurden alle Ausgaben der Zeitschrift nach bundesweiten Razzien zur Vernichtung eingezogen. Auch Nachdrucke von RZ-Erklärungen in der Frankfurter Zeitschrift Pflasterstrand (Heft 45) oder im Berliner Info-Bug (Heft 145) waren davon betroffen. Die Anwälte der Druckerei merkten im Verfahren gegen Mitarbeiter an, erstaunt zu sein, dass etablierte Zeitschriften ungehindert Erklärungen der Rote Armee Fraktion nachdrucken dürften.[11]

Geschichte

Erste Anschläge

Die RZ kamen aus dem militanten autonomen Spektrum. Sie handelten als lose organisierte und unabhängig voneinander agierende Zellen. Seit 1976 fungierten sie unter dem Namen Revolutionäre Zellen. Es gab Kontakte zur RAF, zur Bewegung 2. Juni und auch zu palästinensischen Gruppen und dem lange Zeit weltweit gesuchten Terroristen Carlos.

Die ersten Anschläge verübten die RZ im November 1973 in Berlin und Nürnberg gegen den Konzern ITT. Im Jahr 1975 führte eine Frauengruppe der RZ einen Bombenanschlag auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe durch. Die Rote Zora, wie sich die nur aus weiblichen Mitgliedern bestehende Gruppe kurz danach nannte, trat in der Folge als eigenständige Organisation auf. Bis in die 1980er Jahre gab es gemeinsame Anschläge beider Gruppen.

Zudem existierte eine internationale Zelle der RZ, deren Mitglieder an verschiedenen internationalen Anschlägen beteiligt waren: So beispielsweise Hans-Joachim Klein, neben Gabriele Kröcher-Tiedemann (Bewegung 2. Juni) an dem Überfall auf die OPEC-Konferenz 1975 unter Carlos. Auch an der Entführung einer Air-France-Maschine von Athen nach Entebbe im Jahr 1976 waren die RZ beteiligt. Für beide Operationen unterstellten sich RZ-Mitglieder dem Kommando von Wadi Haddad, der eine Abspaltung der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) befehligte. Im Zuge der israelischen Militäraktion zur Erstürmung des Flughafengebäudes von Entebbe, in dem die Entführer die Geiseln festhielten, wurden zwei Gründer der RZ getötet, Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der RZ um die zukünftige Orientierung der Gruppierung; Anschläge im Ausland wurden danach nicht mehr durchgeführt. Johannes Weinrich, der Böses Nachfolger wurde und militantere Anschläge favorisierte, schloss sich im Zuge der Auseinandersetzungen Carlos an.

Spätere Jahre

Obwohl die RZ die gezielte Tötung von Menschen nach eigenen Aussagen ablehnten, führten sie mehrere sogenannte „Knieschuss“-Attentate durch. Ziel dieser Anschläge war es angeblich, das Opfer schwer zu verletzen und für längere Zeit arbeitsunfähig zu machen.[12] Die Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry 1981 soll auf eine solche Aktion zurückgehen; die genauen Umstände sind allerdings bis heute unklar. In einem Bekennerschreiben stellte die RZ die Tötung als Unfall dar, zeigte jedoch keine Reue.[13] Am 20. September 1983 kam es zu einem Sprengstoffanschlag auf das Rechenzentrum des MAN Werks Gustavsburg, der einen Sachschaden von mehreren Millionen DM verursachte.[14] Dem Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg wurde 1986 und dem Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Günter Korbmacher ein Jahr später in die Beine geschossen.[15]

1987 konnte man Ingrid Strobl auf einem Überwachungsvideo identifizieren. Während der verdeckten Ermittlung gegen sie traf sich Strobl im November 1987 mit einem größeren Personenkreis. Daraufhin gelang dem BKA am 18. Dezember 1987 ein großer Schlag gegen die Revolutionären Zellen. Tausende Polizisten durchsuchten 33 Gebäude in 20 Städten. Gegen 23 mutmaßliche RZ-Mitglieder wurden Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt und die meisten später verurteilt. Vier flüchteten nach Frankreich.[16]

Nach der Wende verloren die RZ an Bedeutung und Rückhalt in der Szene. Am 15. Januar 1991 scheiterte ein Sprengstoffanschlag auf die Berliner Siegessäule. Im Dezember 1991 veröffentlichten die RZ einen Text, der die Auseinandersetzungen nach der Entebbe-Entführung beschreibt und von der zunehmenden Spaltung der Gruppen berichtet. Insbesondere distanzieren sie sich darin von ihrer antiimperialistischen und antizionistischen Ideologie der 70er Jahre. Die Selektion der Geiseln in israelische Staatsbürger sowie Juden auf der einen und sonstige Geiseln auf der anderen Seite fand man nunmehr antisemitisch.[17]

Im Oktober 1993 ereigneten sich die letzten Anschläge der Revolutionären Zellen: Die Zerstörung eines Trafohäuschens des Bundesgrenzschutzes in der Nähe von Frankfurt (Oder) und ein Anschlag am Flughafen Rothenburg (Sachsen). Die Rote Zora zündete im Juli 1995 eine Bombe in der Lürssen-Werft in Lemwerder.

Laut Generalbundesanwalt bekannten sich die Revolutionären Zellen/Rote Zora zu insgesamt 186 Anschlägen, 40 davon in Berlin. Sie gaben an, gegen „staatlichen Rassismus, Sexismus und das Patriarchat“ zu kämpfen. Mitte der 1980er Jahre richteten sich die Anschläge vorrangig gegen die Ausländer- und Asylpolitik der Bundesrepublik.

Laut dem nordrhein-westfälischen Innenministerium verübten die RZ im Zeitraum 1973–1995 insgesamt 296 Sprengstoff-, Brand- und sonstige Anschläge.[18]

2000 wurden die ehemaligen RZ-Mitglieder Christian Gauger und seine Lebensgefährtin Sonja Suder in Paris verhaftet. Nach einigen Monaten kamen sie zunächst wieder frei, da die ihnen zur Last gelegten Taten nach französischem Recht verjährt waren. Deutsche Behörden warfen beiden vor, in den 1970er Jahren an Bombenanschlägen gegen die Unternehmen KSB (Frankenthal) und MAN (Werk Gustavsburg) sowie auf das Heidelberger Schloss beteiligt gewesen zu sein. Suder sollte außerdem das Attentat auf die Opec-Konferenz 1975 in Wien mit vorbereitet haben. 1978 hatten beide gemerkt, dass man sie beschattete und waren daraufhin nach Frankreich geflohen.[19] Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2010 Eilanträge gegen eine Auslieferung nach Deutschland abgelehnt hatte,[20] erfolgte diese im September 2011. Beide kamen in Untersuchungshaft.[21] Am 21. September 2012 begann ihr Strafprozess vor dem Frankfurter Landgericht.[22] Am 12. November 2013 wurde Sonja Suder vom Vorwurf des Mordes im Zusammenhang mit dem Anschlag auf die OPEC-Ölministerkonferenz im Dezember 1975 in Wien freigesprochen, da eine Mittäterschaft nicht nachzuweisen war. Wegen drei Brandanschlägen von 1977 und 1978 erhielt die mittlerweile 80-Jährige eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Weil sie schon zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft verbracht hatte, setzten die Richter den Haftbefehl gegen Suder aus. Das Verfahren gegen ihren Lebensgefährten Christian Gauger hatten sie bereits vorher wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.[23]

Im Dezember 2006 stellten sich die ehemaligen RZ-Mitglieder Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram überraschend der Bundesanwaltschaft.[24] Wegen der Beteiligung an zwei fehlgeschlagenen Sprengstoffanschlägen mit der Roten Zora wurde Gerhäuser im April 2007 zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.[25][26] Die gleiche Strafe erhielt Kram 2009 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.[27]

Literatur

  • Wolfgang Kraushaar: Im Schatten der RAF: Die Entstehungsgeschichte der ‚Revolutionären Zellen‘. In: Die RAF und der linke Terrorismus. Herausgegeben von Wolfgang Kraushaar, Hamburger Edition HIS, Hamburg 2006, Band 1, S. 583–603.
  • Wolfgang Kraushaar: Die antisemitische Selektion eines bundesdeutschen Terroristen. Wilfried Böses Weg von Bamberg nach Frankfurt und von Frankfurt nach Entebbe. In: Die blinden Flecken der RAF. Herausgegeben von Wolfgang Kraushaar, Stuttgart 2017, S. 235–249.
  • ID-Archiv im IISG/Amsterdam: Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. Berlin und Amsterdam 1993, ISBN 3-89408-023-X(nadir.org)
  • Armin Pfahl-Traughber: Linksextremismus in Deutschland: Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2014; Springer, ISBN 978-3-658-04506-7, S. 170–178.
  • Robert Wolff: Zwischen persönlicher Schuld und praktischem Internationalismus: Die transnationalen Verflechtungen der Revolutionären Zellen. In: Über Grenzen hinweg. Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Adrian Hänni, Daniel Rickenbacher, Thomas Schmutz, Frankfurt am Main 2019, S. 281–305.
  • Unsichtbare (Hrsg.): Herzschläge. Gespräch mit Ex-Militanten der Revolutionären Zellen. Assoziation A, Berlin 2022, ISBN 978-3-86241-490-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Armin Pfahl-Traughber: Linksextremismus in Deutschland: Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2014; Springer, ISBN 978-3-658-04506-7, S. 173.
  2. SPIEGEL ONLINE, Hamburg Germany: Prozess um Opec-Attentat: Suder und Gauger schweigen. In: SPIEGEL ONLINE. Abgerufen am 4. August 2016.
  3. Revolutionäre Viren. Der Spiegel 29/1987.
  4. "Demokratie ist die beste Antwort auf den Rechtsextremismus", Kay Nehm, 29. November 2000.
  5. Wolfgang Bayer: Antiquität mit Sprengstoff. In: Der Spiegel. Nr. 12, 2001, S. 52 (online19. März 2001).
  6. Wolfgang Bayer: Antiquität mit Sprengstoff. In: Der Spiegel. 18. März 2001, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 11. Januar 2022]).
  7. tagesspiegel.de
  8. Urteil im Prozess gegen linksextreme "Revolutionäre Zellen" 123recht.net
  9. Fragen über Fragen. Abgerufen am 11. Januar 2022.
  10. CHRISTIAN RATH: Falsche Protokolle retten RZ nicht. In: Die Tageszeitung: taz. 30. Juni 2006, ISSN 0931-9085, S. 6 (taz.de [abgerufen am 11. Januar 2022]).
  11. Roland Seim, Zwischen Medienfreiheit und Zensureingriffen, Münster 1997, S. 243.
  12. Aktion gegen den hessischen, jüdischen Wirtschaftsminister Karry (Mai 81), Revolutionäre Zellen, Mai 1981, nach: Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. ID-Archiv im IISG (Hg.), ID-Verlag
  13. Johannes Wörle: Erdung durch Netzwerkstruktur? Revolutionäre Zellen in Deutschland. In: Alexander Straßner (Hrsg.): Sozialrevolutionärer Terrorismus: Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien. VS Verlag, 2008, S. 267f.
  14. Anschlag auf südhessisches Rechenzentrum zeigt Schwächen bei der Security-Planung auf: MAN-Bombe läßt DV-Sicherheitsleute aufhorchen. In: Computerwoche. 30. September 1983, abgerufen am 4. März 2016 (Im Artikel werden die "Revolutionären Zellen" als "Rote Zellen" betitelt.).
  15. Die RZ waren keine Schwatzbude. (Nicht mehr online verfügbar.) In: jungle-world.com. Archiviert vom Original am 4. August 2016; abgerufen am 4. August 2016.
  16. Knockout für die Feierabendterroristen, DER SPIEGEL 18.12.2019
  17. Gerd Albartus ist tot., Revolutionäre Zellen im Dezember 1991, (nach: Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora. ID-Archiv im IISG (Hg.), ID-Verlag).
  18. web.archive.org
  19. „Du schaust immer, ob jemand hinter dir ist“ in: taz.de vom 20. März 2010.
  20. Mutmaßlichen deutschen Terroristen droht Auslieferung in: Spiegel Online vom 3. Januar 2011.
  21. Exmitglieder kommen in Haft in: taz vom 16. September 2011.
  22. Frankfurt Revolutionäre Zellen Suder Gauger. FR vom 21. September 2012.
  23. Revolutionäre-Zelle-Aktivistin Sonja Suder: Der letzte Richterspruch. In: taz.de, 12. November 2013, abgerufen am 26. Juni 2015.
  24. Deutsche Terroristen stellen sich nach 19 Jahren, SPIEGEL Online, 3. Februar 2007
    Mutmaßliche Terroristen stellen sich nach 19 Jahren (tagesschau.de-Archiv), Tagesschau.de, 3. Februar 2007
    Die populäre Stadtguerilla steigt aus, taz, 5. Februar 2007.
  25. morgenpost.de
  26. Kammergericht: Mitglied der "Roten Zora" zu Bewährungsstrafe von zwei Jahren Haft verurteilt (PM 29/2007). Abgerufen am 3. August 2016.
  27. taz, die tageszeitung: "Gibt man jemandem eine Waffe, den man umbringen will?" In: www.taz.de. Abgerufen am 4. August 2016.

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