Pogrom von Kielce

Dreisprachige Gedenktafel: polnisch, jiddisch, englisch

Im Pogrom von Kielce wurden am 4. Juli 1946 in Kielce über 40 polnische Juden ermordet[1][2] und weitere 80 verletzt, nachdem ein Gerücht über die Entführung eines christlichen Jungen verbreitet worden war. Unter den Opfern befanden sich auch zwei nichtjüdische Polen, die den Angegriffenen zu Hilfe geeilt waren.

Der Pogrom gilt als der bekannteste Übergriff auf jüdische Personen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und hatte eine jüdische Emigrationswelle aus Polen zur Folge. Die Rolle der staatlichen Stellen bei diesem Pogrom ist bis zum heutigen Tage nicht geklärt.[3]

Vorgeschichte

Als die deutschen Truppen am 4. September 1939 in Kielce einmarschierten, lebten rund 25.000 Juden in der Stadt. Ab März 1941 wurden sie von den Deutschen in das Ghetto Kielce gesperrt und im Zuge des Holocaust in Vernichtungslager der Aktion Reinhard deportiert oder konnten fliehen. Im August 1944 lebten in Kielce keine Juden mehr. Nach Kriegsende kehrten nach und nach etwa zweihundert Juden nach Kielce zurück. Einige von ihnen waren Überlebende der Konzentrationslager, andere hatten sich verstecken können oder waren ins Innere der Sowjetunion geflohen.[4]

Der Pogrom

Haus an der Planty Nr. 7, 2006

Auslöser des Pogroms war das Gerücht über die angebliche Entführung des neunjährigen Henryk Blaszcyk[5], der am 1. Juli Freunde in einem Nachbarort besucht hatte und erst nach zwei Tagen wieder zurückgekehrt war. Am nächsten Morgen, dem 4. Juli, ging sein Vater mit ihm zur Polizei und erzählte, sein Sohn sei von Juden entführt und im Keller jenes Hauses im Zentrum der Stadt, in dem unter anderem das jüdische Komitee untergebracht war und etwa 200 Juden wohnten,[6] festgehalten worden. Polizisten, Vater und Sohn gingen, begleitet von einer wachsenden Menschenmenge, zu dem Haus, wo sich allerdings kein Keller befand.[7] Dennoch kam es zu anti-jüdischen Protesten vor dem Haus, die auch auf die jahrhundertelang propagierten Ritualmordlegenden des christlichen Antijudaismus Bezug nahmen. Angehörige der Miliz betraten das Gebäude und gaben Schüsse ab. Tatenlosigkeit und teilweise Beteiligung der vor Ort anwesenden Milizionäre ermöglichte die Eskalation der Ausschreitungen durch den vor dem Haus versammelten Mob.[6] Das Pogrom, in dessen Verlauf mehr als 40 Menschen ermordet wurden, zog sich über mehrere Stunden hin und wurde erst durch das Einschreiten von herbeigeholten Soldaten beendet.[7]

Folgen

Die Mehrheit der etwa 300.000 polnischen Juden, die die deutsche Besatzungszeit überlebt hatten,[8] verstand den Pogrom als unmissverständliches Zeichen dafür, dass es für sie in Polen keine sichere Zukunft gab. In den nachfolgenden Monaten verließen im Rahmen der Fluchthilfe-Bewegung Bricha mehrere zehntausend Juden das Land.

Die Überlebenden des Pogroms flohen zum Teil nach Westdeutschland in die Amerikanische Besatzungszone, wo sie als so genannte Displaced Persons (DPs) vorübergehend Aufnahme in DP-Lagern fanden. Die Zahl jüdischer Displaced Persons stieg in der Amerikanischen Besatzungszone von 36.000 im Januar 1946 auf 141.000 im Oktober 1946; im Sommer 1947 lebten mehr als 180.000 Juden (darunter etwa 80 % aus Polen) in rund 70 Lagern.[9] Bei der deutschen Bevölkerung, die unter Nahrungsmangel und Kälte litt, verstärkte die Versorgung und Unterbringung der „ostjüdischen Gruppen“ Missgunst und Vorurteile. Die Ergebnisse einer Umfrage, die das Landeskirchenamt Kassel im Oktober 1946 in 25 Kirchenkreisen machte, zeugen von fehlender Wahrnehmung der Verfolgung osteuropäischer Juden und der deutschen Verantwortlichkeit dafür, von Stilisierung der eigenen Opferrolle und vielfach von ungebrochenen antisemitischen Vorurteilen.[10]

Aufarbeitung

Zwölf Personen wurden am 9. Juli 1946 wegen ihrer Teilnahme am Pogrom vor Gericht gestellt und am 11. Juli davon neun zum Tode, drei zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Hinrichtung der neun Verurteilten fand am 12. Juli 1946 um 21.45 Uhr in einem Wald bei Kielce im Geheimen durch Erschießen statt, ohne dass Angehörige und Verteidiger informiert wurden.[2][11] Die sehr schnelle Vollstreckung der Todesurteile auf Geheiß der angeblich jüdisch kontrollierten kommunistischen Führung, während der am 9. Juli 1946 zum Tode verurteilte ehemalige Reichsstatthalter in Posen, Arthur Greiser, noch am Leben war, führte zu heftigen Protesten in Teilen der polnischen Bevölkerung.[12]

Die kommunistische Propaganda bezichtigte zunächst antikommunistische Gruppierungen der Anzettelung des Pogroms[13], später waren in der Volksrepublik Polen unabhängige Publikationen über die Hintergründe des Verbrechens von 1946 nicht erlaubt.[6] Andererseits formulierten die antikommunistischen Regimegegner die bis heute häufig aufgestellte, aber bisher nicht bewiesene These, dass die kommunistischen Sicherheitsorgane die Ausschreitungen ausgelöst hätten,[6] um aus der geplanten Provokation politisches Kapital zu schlagen, insbesondere um die Weltöffentlichkeit von der Fälschung des am 30. Juni 1946 in Polen durchgeführten Referendums abzulenken.[13]

Die Gewerkschaft Solidarność forderte nach 1980 eine Dokumentation und eine Debatte über die antisemitisch motivierten Mordtaten der ersten Nachkriegsjahre. Erst mit der politischen Wende von 1989/90 setzte diese Debatte ein. Zum 50. Jahrestag 1996 gedachte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski der Opfer; allerdings fuhr er nicht nach Kielce, weil es im Stadtrat Widerstand gegen eine Gedenkfeier gegeben hatte.[14] Dies tat erst sein Nachfolger Lech Kaczyński, 2006 sprach er am Ort des Verbrechens von einer „Schande für Polen“.[15]

Das Institut für Nationales Gedenken (IPN), dessen staatsanwaltliche Abteilung 2000 neue Ermittlungen aufgenommen hatte, stellte sie nach vier Jahren ein, denn man habe weder die Hintergründe des Massenmordes aufklären noch lebende Täter ermitteln können.[16] Der Verdacht einer gezielten Provokation wurde jedoch insbesondere in Kreisen der Solidarność thematisiert.[17]

Die Warschauer Kulturanthropologin Joanna Tokarska-Bakir kam nach Prüfung der in polnischen Archiven vorhandener Akten zu dem Pogrom zu dem Schluss, dass die angebliche Provokation durch die Geheimpolizei UB nicht nachweisbar ist.[18] In ihrem 2018 veröffentlichten Buch berichtet sie über die Stimmung in der Gesellschaft Kielces, die zu dem Pogrom geführt habe.[19] Das Buch erhielt 2019 den Yad Vashem International Book Award.[20]

Die Ereignisse wurden im Film Von Hölle zu Hölle (1996) thematisiert, einer deutsch-weißrussischen Koproduktion, an der Artur Brauner als Produzent und (neben Oleg Danilov) Drehbuchautor beteiligt war.[21] Ein Dokumentarfilm (Polen/USA) von Michael Jaskulski und Lawrence Loewinger über die Ereignisse und den späteren Umgang damit in der Stadt Kielce – Bogdans Reise (Bogdan’s Journey) – entstand 2016.[22]

Literarische Rezeption

Andrzej Szczypiorski: Nacht, Tag und Nacht. Diogenes Verlag Zürich 1991, Kap. 13.

Literatur

  • Bożena Szaynok: The pogrom of Jews in Kielce, July 4, 1946. In: Yad Vashem studies. ISSN 0084-3296, 22 (1992), S. 199–235.
  • David Engel: Patterns Of Anti-Jewish Violence In Poland, 1944–1946. (PDF; 203 kB). Yad Vashem Studies Vol. XXVI, Jerusalem 1998, S. 43–85.
  • Joanna Tokarska-Bakir: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Czarna owca, Warschau 2018, ISBN 978-83-755-4936-2.
  • Łukasz Kamiński, Jan Żaryn (Hrsg.): Reflections on the Kielce pogrom. Institute of National Remembrance, Warschau 2006, ISBN 978-83-604-6423-6.
  • Jan Tomasz Gross: Fear. Anti-semitism in Poland after Auschwitz. An essay in historical interpretation. Random House, New York 2006, ISBN 0-375-50924-0, deutsch: Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Suhrkamp, Berlin 2012, ISBN 978-3-518-42303-5.
  • Arnon Rubin: The Kielce pogrom, spontaneity, provocation or part of a country-wide scheme? (= Facts and Fictions about the Rescue of the Polish Jewry During the Holocaust, Band 6) Tel Aviv University Press, Tel Aviv 2003. ISBN 965-555-144-X.
  • Klaus-Peter Friedrich: Das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946. Anmerkungen zu einigen polnischen Neuerscheinungen. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. ISSN 0948-8294. 45 (1996), S. 411–421 (doi:10.25627/19964536139).
  • Werner Röhr: Massaker an Überlebenden. Zum antijüdischen Pogrom in der polnischen Stadt Kielce am 4. Juli 1946. In: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung. ISSN 1434-5781. 29 (2007), S. 1–32.
  • Tadeusz Piotrowski: Poland's Holocaust: Ethnic Strife, Collaboration with Occupying Forces and Genocide in the Second Republic, 1918–1947. McFarland, London 1998, ISBN 0-7864-0371-3.
  • Jan T. Gross: Kielce. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 3: He–Lu. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02503-6, S. 345–350.

Weblinks

Commons: Pogrom von Kielce – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Bozena Szaynok: The Kielce Pogrom. Jewish Virtual Library, abgerufen am 10. Mai 2012.Vorlage:Cite web/temporär
  2. a b Anita Prazmowska: Poland’s Century: War, Communism and Anti-Semitism. Case Study: The Pogrom in Kielce. London School of Economics and Political Science, 2002, archiviert vom Original am 9. Juli 2011; abgerufen am 4. Juli 2016 (englisch).
  3. Pogrom von Kielce ist auch nach 52 Jahren ungeklärt. haGalil, Juli 1998.
  4. William Glicksman, Stefan Krakowski: Kielce. In: Michael Berenbaum und Fred Skolnik (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 12. Macmillan Reference USA, Detroit 2007, S. 146–147 (Gale Virtual Reference Library [abgerufen am 5. Juni 2013]).
  5. Sarah Stricker: Polens Holocaustgesetz – Die Taten der Opfer. In: Cicero, 2. März 2018.
  6. a b c d Pogrom kielecki. Żydowski Instytut Historyczny
  7. a b Kielce vor 70 Jahren - Das schlimmste Pogrom der Nachkriegszeit. Abgerufen am 3. Juli 2021 (deutsch).
  8. Jürgen Matthäus: Keine Opfer, keine Täter – Deutsche Reaktionen auf die Zuwanderung von polnischen Juden nach dem Kielce-Pogrom… In: Alfred B. Gottwaldt u. a. (Hrsg.): NS-Gewaltherrschaft. Berlin 2005, ISBN 3-89468-278-7, S. 359.
  9. Jürgen Matthäus: Keine Opfer, keine Täter… In: Alfred B. Gottwaldt u. a. (Hrsg.): NS-Gewaltherrschaft. Berlin 2005, ISBN 3-89468-278-7, S. 360.
  10. Jürgen Matthäus: Keine Opfer, keine Täter… In: Alfred B. Gottwaldt u. a. (Hrsg.): NS-Gewaltherrschaft. Berlin 2005, ISBN 3-89468-278-7, S. 367.
  11. Tadeusz Piotrowski (1998), S. 280.
  12. Catherine Epstein: Model Nazi: Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland. Oxford University Press, Oxford 2012. S. 328.
  13. a b Bozena Szaynok: The Jewish Pogrom in Kielce, July 1946 – New Evidence. In: Intermarium, Band 1, Nummer 3. East Central European Research Center, Columbia University, 1997, abgerufen am 5. Juli 2016.
  14. Jane Perlez: 50 Years after Pogrom. The New York Times, 6. Juli 1996, abgerufen am 5. Juli 2016 (englisch).
  15. Poland Marks 60th Anniversary of Massacre.
  16. Reflections on the Kielce pogrom. Instytut Pamięci Narodowej 2006, ISBN 83-60464-23-5.
  17. Krystyna Kersten: Kielce – 4. Juli 1946. In: Osteuropa-Info Nr. 55/1984, „Juden und Antisemitismus in Osteuropa“, ISSN 0724-083X, S. 61–73. Übernommen aus: Tygodnik Solidarność, Nr. 36 vom 4. Dezember 1981.
  18. Antysemicki tłum, antysemicka milicja. Jak doszło do pogromu kieleckiego? in: Newsweek Polska Historia, 4/5.2018, S. 29.
  19. Joanna Tokarska-Bakir: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Warschau 2018.
  20. Omer Bartov and Joanna Tokarska-Bakir Were Awarded with the 2019 Yad Vashem International Book Prize, Yad Vashem, 8. Dezember 2019
  21. Siehe unter anderem: kinofenster: Daten und Inhaltsangabe und Eintrag auf www.cine-holocaust.de
  22. https://www.youtube.com/watch?v=HCRk2i64CFg

Koordinaten: 50° 52′ 23,4″ N, 20° 37′ 35,7″ O

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