Palingenese (Sozialwissenschaften)

Palingenese (‚Neugeburt‘, aus griechisch Παλίνpalín-, deutsch ‚wieder‘, und γένεσιςgénesis, deutsch Entstehung, ‚Schöpfung‘, ‚Geburt‘; englisch palingenesis) ist ein Begriff verschiedener Faschismustheorien für ein zentrales Element des Faschismus.

Begriff

Emilio Gentile übernahm den Begriff aus der Theologie, zuerst in seinem Werk Le origini dell'ideologia fascista (1918–1925). Er verstand ihn im Sinne der heute so bezeichneten „Konvergenztheorie“.[1] Roger Griffin fasste den Begriff schärfer als Zielvorstellung des Faschismus, das auf die „Neugeburt“ der „dekadenten Gesellschaft“ durch totale Ausrichtung auf einen verherrlichten Führer ziele. Dies sah er als „mythischen Kern der faschistischen Ideologie“.[2]

Faschismusanalyse

In faschistischen Ideologemen ist dabei die Sprache von einer „revolutionären Neugeburt“ der „Gemeinschaft“ in eine „neue Ordnung“ und in einer „neuen Ära“. Damit ist eine (konter-)revolutionäre Bestrebung eines utopischen Ultra-Nationalismus gemeint. Markant ist Palingenesis für einen bestimmten Typ von Kulturpessimismus:

„[Es] lassen sich zwei Typen von Kulturpessimismus unterscheiden: der Typ, der keinen Ausweg sieht und der zu Verzweiflung führt, und die palingenetische Variante, die die finsterste Nacht nicht als endgültig und als Vorspiel zum Tode, sondern zyklisch als Ankündigung einer neuen Morgendämmerung versteht. Wenn palingenetischer Kulturpessimismus einmal in den ideologischen Treibstoff einer politischen Massenbewegung verwandelt ist, kann er revolutionäre Energien zur Säuberung der Gesellschaft von ihrer inneren Dekadenz und Korruption durch systematische Verfolgung und Massenmord entfalten. Außenstehenden und insbesondere den Opfern mag dies ‘nihilistisch’ erscheinen, doch im Geiste der Planer und Akteure ist das Ziel, den Nihilismus zu überwinden und die Dekadenz in Neugeburt zu verwandeln, eine Gesinnung, die in Nietzsches Der Wille zur Macht „aktiver Nihilismus“ im Unterschied zu „passivem“ genannt wird.“

Roger Griffin[3]

Roger Griffin sieht diese Bestrebungen als idealtypisches Merkmal aller faschistischen Ideologien, sowohl im Nazismus, bei den Denkern der Konservativen Revolution und den rechten Intellektuellen und Gruppierungen der Neuen Rechten wie Armin Mohler und Alain de Benoist.[4]

1991 machte Griffin in The Nature of Fascism den Vorschlag, Faschismus idealtypisch – im Sinne von Max Weber – zu definieren. Danach wäre Faschismus als „Gattung politischer Ideologie, deren mythischer Kern in seinen mannigfachen Permutationen aus einer palingenetischen Form populistischem Ultranationalismus besteht“[5] zu beschreiben. Entsprechend definiert Griffin den Faschismus als einen „palingenetische[n] Ultra-Nationalismus“. Griffin wendet sich damit gegen eine Definition des Faschismus, die sich auf die Epoche des Nationalsozialismus beschränkt, und stieß in der internationalen Forschung eine größere kontroverse Debatte an.[6][7]

Mit der generischen Definition des Faschismus auf seine ideologischen Kernelemente, die Faschismus als eine Ideologie wie andere Ideologien behandelt, verfolgt Griffin das Ziel, den „Einsichten in die Wandlungen des internationalen Faschismus nach 1945“[8] zu folgen. Damit grenzt er sich von Faschismusdefinitionen, die sich auf eine historische Epoche beziehen, ab:

„Da die Definition auf den ideologischen Kern zielt statt auf die konkreten historischen Erscheinungsformen (Führerkult, Paramilitarismus, Politik des Spektakels usw.), mit anderen Worten: da sie Faschismus genau wie andere generische politische Ideologien (Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus) behandelt, wird es einsichtig, ein politisches Phänomen auch dann als faschistisch zu betrachten, wenn es nur im embryonalen Zustand im Kopf eines Ideologen und ohne Ausdruck in einer politischen Partei, geschweige denn einer Massenbewegung, existiert. Darüber hinaus mag es sinnvoll sein, eine Form politischer Energie als faschistisch zu erkennen, selbst wenn sie auf die Absicht verzichtet, als parteipolitische und/oder paramilitärische Kraft zu operieren und stattdessen einem Ansatz folgt, der eher mit politischem Quietismus denn mit revolutionärem Fanatismus zu tun zu haben scheint. So konnten verschiedene Personen, die der „Konservativen Revolution“ zugeordnet werden, beispielsweise Ernst Jünger und Martin Heidegger, wegen ihrer Obsession, die kulturelle und gesellschaftliche Dekadenz zu überwinden, als Faschisten klassifiziert werden, obwohl sie nur vorübergehend die NSDAP als Vehikel für die Realisierung ihrer palingenetischen Fantasien ansahen.“

Roger Griffin[3]

Griffin bezieht sich in dieser Definition von Faschismus auf den so genannten „Neuen Konsens“ in der Faschismusforschung, wie er von Matthew Lyons formuliert wurde: „Faschismus ist eine Form rechtsextremer Ideologie, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft, die alle anderen Loyalitäten übersteigt, verherrlicht. Er betont einen Mythos von nationaler oder rassischer Wiedergeburt nach einer Periode des Niedergangs oder des Zerfalls.“[9][10]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. dazu Sven Reichardt: Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung. In: Mittelweg 36 1/2007
  2. Roger Griffin: Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus: Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn und Jobst Paul (Hrsg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Unrast Verlag, Münster 2005
  3. a b Roger Griffin: Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus. Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hrsg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Unrast, Münster 2005.
  4. Roger Griffin (2005): Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus: Ein angelsächsischer Blick auf ein nicht nur deutsches Phänomen. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn und Jobst Paul, Hg.: Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster: Unrast. Seiten 39, 40
  5. Roger Griffin (1991): The Nature of Fascism. Dt. Übersetzung zitiert nach Alfred Schobert in: Rodger Griffin: Der umstrittene Begriff des Faschismus – Interview mit Roger Griffin. In: DISS-Journal 13/2004
  6. Roger Griffin, Werner Loh, Andresas Umland (2006): Fascism Past and Present, West and East. An International Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. Ibidem Verlag.
  7. Erwägen-Wissen-Ethik (Heft 4/2004)
  8. Roger Griffin (2005): Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus
  9. Matthew N. Lyons: What is Fascism? Some General Ideological Features. 12. Januar 2004; Übersetzung von Alfred Schober. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hrsg.):Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt. Münster 2006. Einleitung
  10. vgl. Matthew Lyons: Was heißt Faschismus? Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 30. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.diss-duisburg.de

Literatur

  • Roger Griffin (2005): Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus. In: Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn und Jobst Paul, Hg.: Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster: Unrast Verlag. (Einleitung: Online [1])
  • Roger Griffin, Werner Loh, Andresas Umland (2006): Fascism Past and Present, West and East. An International Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. Ibidem Verlag. (Rezension: Ralph Kummer, redok Ibidem Verlag Online: [2]; PDF; 9 kB)
  • Roger Griffin (1998): Introduction. In: Roger Griffin (Hg.), International Fascism. Theories, Causes and the New Consensus, London.
  • Roger Griffin (1991): The Nature of Fascism. London.
  • Roger Griffin (2002): 'The Palingenern Political Community: Rethinking the Legitimation of Totalitarian Regimes in Inter-War Europe'. In: Totalitarian Movements and Political Religions 2/2 (2002), Seiten 24–43
  • Erwägen-Wissen-Ethik (Heft 4/2004) [3]
  • Roger Griffin: Der umstrittene Begriff des Faschismus – Interview mit Roger Griffin. In: DISS-Journal 13/2004 [4]
  • Matthew Lyons: Was heißt Faschismus? [5]
  • Matthew Lyons: What is Fascism? Some General Ideological Features. (Online bei Publiceye.org [6])

Zur Einordnung in der Faschismusforschung

  • Emilio Gentile (1992): „Fascismo“. In: Enciclopedia Italiana di Scienze. Lettere ed Arti. Rom. S. 196–199.
  • Richard Thurlow (1999): Fascism. Cambridge. S. 5f.
  • Walter Laqueur (1996): Faschismus. Gestern, Heute, Morgen. Berlin. S. 19
  • Roger O. Paxton (2004): The Anatomy of Fascism. New York 2004. S. 21
  • Michael Mann (2004): Fascists. Cambridge 2004. S. 12f.
  • Chip Berlet. (2004) Christian Identity: The Apocalyptic Style, Political Religion, Palingenesis and Neo-Fascism. Totalitarian Movements and Political Religions, Vol. 5, No. 3, (Winter), special issue on Fascism as a Totalitarian Movement.
  • Roger Eatwell (2003): Reflections on Fascism and Religion. In: Totalitarian Movements and Politics Religions. [7]
  • Matthew J. Goodwin: Grandpa’s fascism and the New Kids on the Block: Contemporary. Approaches to the Dark Side of Europe. University of Bath [8]

Weblinks