Modernismo

Der Modernismo kam Ende des 19. Jahrhunderts als literarische Strömung in Lateinamerika auf. Er entstand aus der Auflehnung gegen literarische Konventionen und in der Bemühung, subtilere Ausdrucksmittel und neue metrische Strukturen in der Lyrik zu schaffen. Daher rührt auch die Bezeichnung einer Richtung, die bewusst „modern“ sein und eine neue Art zu schreiben begründen will, eine adäquate Kunst für das moderne Lebensgefühl des Menschen am Fin de siècle. Als sein Begründer gilt Rubén Darío aus Nicaragua.

Phasen

Im Verlauf des Modernismo sind mehrere Phasen zu unterscheiden:

  1. Blütezeit (ca. 1880 bis 1898);
  2. Phase ab ca. 1898 bis zum Ersten Weltkrieg, die durch größere Schlichtheit gekennzeichnet ist;
  3. Abklingende Phase (Postmodernismo), Nachwirkungen bis in die 1940er Jahre.

Die erste Phase des Modernismo endete schlagartig mit einem Trauma: Die USA griffen 1898 in den kubanischen Unabhängigkeitskrieg ein, besiegten Spanien im Spanisch-Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und installierten sich als neue imperiale Macht in der Karibik. Eine außerordentlich rasche Politisierung der Schriftsteller war die Folge, die sich viel schneller vollzog als in Europa. Eine der ersten sehr entschiedenen Reaktionen auf diesen Krieg kam von Rubén Darío, der heftige Kritik am angelsächsischen Utilitarismus und am Fehlen jeglicher Sensibilität für Kunst, Literatur und ideelle Wert übte. Ein regelrechter Kulturkampf begann mit dem Ziel, die Überlegenheit des lateinischen Geistes gegen das Nützlichkeitsdenken der Angelsachsen zu beweisen und damit ästhetische und moralische Barrieren gegen die Ansprüche der Yankees auf den südlichen Kontinent zu errichten. Unter den nordamerikanischen Autoren wurden nur zwei Ausnahmen akzeptiert, die sich von diesem Nützlichkeitsdenken abhoben: Edgar Allan Poe und Walt Whitman.[1]

Der Postmodernismo der 1930er und 1940er Jahre (nicht zu verwechseln mit postmodernidad, der Postmoderne, obwohl nicht konsequent zwischen beiden Begriffen unterschieden wird) ist gekennzeichnet durch eine Hinwendung zur Welt der kleinen Leute und ihren Alltagsproblemen, aber auch zum Existenzialismus.

Charakteristik

Der Modernismo kann als eine verspätete l’art pour l’art-Bewegung auf der Iberischen Halbinsel und in Hispanoamerika verstanden werden. Starke Einflüsse kommen in der ersten Phase vom französischen Symbolismus und von den Parnassiens, mit denen ihn eine dekadente Grundstimmung sowie die Flucht in das Ideal zweckfreier Schönheit verbindet. So richtet er sich gegen den bürgerlichen Realitäts- und Geschäftssinn und dessen Moral. Die Grundstimmung in modernistischer Lyrik ist aristokratisch, abgehoben, märchenhaft, exotisch, fantastisch; oft wird auch auf die antike Sagenwelt oder nordische Stoffe zurückgegriffen. Dazu sagt Rubén Darío rückblickend:

«Yo detesto la vida y el tiempo en que me toquó nacer […] y luego escapaba de ambos escribiendo sobre dioses griegos, centauros, deslumbramientos florentinos, añoranzas francesas, lujos orientales o la gracia de las ménades, las nájades y los satiros.»

„Ich hasse das Leben und die Zeit, in der ich geboren wurde […] und dann bin ich beiden entflohen, indem ich über griechische Götter, Zentauren, Florentiner Glanz, französische Sehnsüchte, orientalischen Luxus oder die Anmut der Mänaden, der Najaden und der Satyrn geschrieben habe.“

Rubén Darío: Prosas profanas. Vorwort[2]

Der lateinamerikanische Modernismo, der sich an ein elitäres Publikum wendete, wurde prägend für das lateinamerikanische Selbstverständnis und spielte eine bedeutende Rolle im Identitätsbildungsprozess vieler lateinamerikanischer Länder. Er ist die erste eigenständige literarische Bewegung Lateinamerikas und wirkte stark auf das Mutterland zurück, das nach dem Verlust Kubas, der letzten Kolonie in Lateinamerika, kulturell erschüttert und aufgrund interner Krisen wirtschaftlich geschwächt war. Lateinamerikanische Autoren wie Rubén Darío stellten erstmals den kulturellen Führungsanspruch Spaniens in Frage.[3]

Als Merkmale des Modernismo können gelten:

  • die Verweigerung gegenüber traditionellen, realistischen Ansätzen und Ablehnung alter Themen
  • die Aufnahme von modernen Alltagsmotiven (Technik, Stadt) und mythischen Stoffen
  • die Ablehnung der logischen Entwicklung eines Themas und konventioneller poetischer Formen
  • eine kryptische Semantik
  • eine metaphorische, innovative, kühne Bildsprache
  • eine elitäre, avantgardistische Haltung.

Der Modernismus kann auch insofern als postromantisch bezeichnet werden, als er dem Dichter Qualitäten zuerkennt, die ihn über den normalen Sterblichen hinausheben, v. a. die Fähigkeit, durch Symbole oder Metaphern das Unaussprechliche und Mysteriöse zu enthüllen. Mit den romantischen Dichtern verbindet ihn auch die Vorliebe für komplexe Emotionen, vor allem melancholischer Natur, aber auch sinnlich-erotische Neigungen. Die anfängliche Rebellion bahnt sich aber einen Weg ins rein Sprachliche und versandet dort, verfällt in eine automatisierte Rhetorik, die bald ins Dekadente abgleitet.

Formal gesehen fällt die hoch musikalische Qualität der Verse auf, die im späteren Verlauf immer freieren Rhythmen folgen und sich von den klassischen Versmaßen befreien. Die modernistischen Dichter lieben exquisite Synästhesien: Licht, Farbe, Töne, Stimmungen wirken zusammen. Alte, seltene Formen werden aus der Versenkung geholt; so ist zum Beispiel die silva sehr beliebt, eine nicht-strophische Form in Kombination von Sieben- und Elfsilblern, aber auch neue Formen bis hin zum verso libre werden ausprobiert.

Sprachlich drückt sich die Grundstimmung des Modernismus im Vokabular aus, das sich auf folgende Bereiche und typische Ausdrücke konzentriert: Zoologie (Schwäne, Pfaue, Schmetterlinge, Löwen, Adler, Tauben), Pflanzen, die in der Heraldik eine Rolle spielen, wie Lilien, Lotusblume, Lorbeer, Myrthen, Oliven; Ausdrücke aus der Mineralogie und Architektur: Marmor, Säulen, Kapitelle, Rubine, Saphire, Opal; gelehrte Neologismen, die aus dem Lateinischen und Griechischen gebildet werden: liróforo, homérida, nictálope, apolonida etc., Archaismen, Fremdwörter wie muaré, esplín, cabriolé, Ausdrücke aus Physik, Astronomie und Chemie: hiperbórea, quirúrgico, aerostación, alles was mit Aristokratie zu tun hat: Prinzessinnen, Pagen, Wappen etc. Als Farben sind gold, violett, blau besonders beliebt.

Der Modernismo verläuft in Spanien fast zeitgleich zur Generación del 98, mit der ihn die Abkehr von tradierten Wertvorstellungen verbindet. Formal jedoch sind beide literarische Strömungen recht unterschiedlich ausgeprägt: Der Modernismo hat seinen Schwerpunkt in der Lyrik, während die Vertreter der 98er-Generation in der Prosa brillieren. Während ersterer eine kosmopolitische Strömung ist, bleiben die 98er stark auf Probleme Spaniens konzentriert, und dem Ästhetizismus der Modernisten steht das (auch politische) Engagement der 98er-Generation gegenüber.

Hispanoamerikanischer Modernismo

Der Modernismo konnte in jedem Land Hispanoamerikas Fuß fassen und übte noch nach seiner eigentlichen Blütezeit eine beträchtliche Wirkung aus. Das erstreckte sich auch auf die Politik: Die US-amerikanische Demokratie erschien den zur Elitarismus neigenden hispanoamerikanischen Literaten gleichbedeutend mit Mittelmäßigkeit und Gleichmacherei, die die Spiritualität, Moral und Werte der Eliten zerstörte. Das Volk – Adressat und Akteur der Demokratie – erschien ihnen blind und roh. Die Begeisterung für Heldentum, Eroberer, Kaziken, Schwert und Pfeil führte zum Konstrukt der dictaduras organizada, das beispielsweise für die Mexikanische Revolution von dem Peruaner José Santos Chocano entworfen wurde.[4]

Modernismo Brasileiro

Brasilien bildete mit dem Modernismo brasileiro im zwanzigsten Jahrhundert eine eigene Entwicklung heraus, die später als in Iberoamerika einsetzte und sich ebenfalls in drei Phasen oder Generationen gliedern lässt, beginnend 1922 mit der Semana de Arte Moderna von Oswald de Andrade und Mário de Andrade und gekennzeichnet durch avantgardistische Tendenzen,[5] fortgeführt als zweite Phase in den Jahren 1930, der Revolution von 1930, bis 1945 mit Autoren wie Érico Veríssimo und gekennzeichnet durch den Regionalismo brasileiro und den städtischen Roman sowie Psychologisierung der Charaktere,[6] letztlich mit der dritten Phase von 1945 bis 1980 mit Autoren wie Clarice Lispector.[7]

Vertreter des Modernismo (Auswahl)

Lateinamerika

  • Oswald de Andrade (Brasilien, 1890–1954)
  • Mário de Andrade (Brasilien, 1893–1945)
  • Delmira Agustini (Uruguay, 1887–1914)
  • Porfirio Barba Jacob (Kolumbien, 1883–1942)
  • Julián del Casal (Kuba, 1863–1893)
  • Rubén Darío (Nicaragua, 1867–1916)
  • Manuel Gutiérrez Nájera (Mexiko, 1858–1895)
  • Julio Herrera y Reissig (Uruguay, 1875–1910)
  • Juana de Ibarbourou (Uruguay, 1892–1979)[8]
  • Enrique Larreta (Argentinien, 1873–1961)
  • Clarice Lispector (Brasilien, 1920–1977)
  • Leopoldo Lugones (Argentinien, 1874–1938)
  • José Martí (Kuba, 1853–1895)
  • Amado Nervo (Mexiko, 1870–1919)
  • Calixto Oyuela (Argentinien, 1857–1935)
  • Pagu (das ist Patrícia Rehder Galvão) (Brasilien, 1910–1962)
  • Horacio Quiroga (Uruguay, 1878–1937)
  • Vicente do Regio Monteiro (Brasilien, 1899–1970)
  • José Asunción Silva (Kolumbien, 1865–1896)
  • José Juan Tablada (Mexiko, 1871–1945)
  • José María Vargas Vila (Kolumbien, 1860–1933)
  • María Eugenia Vaz Ferrera (Uruguay, 1875–1924)
  • Érico Veríssimo (Brasilien, 1905–1975)

Spanien

Siehe auch

Literatur

Anthologien

  • José Emilio Pacheco (Hrsg.): Antología del modernismo: (1884 – 1921); tomos I y II en un volumen / introd., selección y notas José Emilio Pacheco. México: Univ. Nacional Autonoma de México [u. a.], 1999. (Biblioteca del Estudiante Universitario; 90/91) ISBN 968-36-6156-4 (spanisch)
  • Ángel Crespo (Hrsg.): Antología de la poesía modernista. Tarragona, Tarraco, 1980. ISBN 84-7320-024-1 (spanisch)

Sekundärliteratur

  • Robert Schmutzler, El modernismo. Madrid: Alianza Forma, 1985. (spanisch)
  • Michael Rössner, Lateinamerikanische Literaturgeschichte, 564 Seiten, Stuttgart: Metzler, 2. erw. Aufl. 2002, ISBN 3-476-01858-X
  • Francisco Rico: Historia y crítica de la Literatura española: Modernismo y 98. Barcelona: Editorial Crítica, 1980. (spanisch)
  • Hans-Jörg Neuschäfer, Spanische Literaturgeschichte, 446 Seiten, Stuttgart: Metzler, 2. Auflage 2006, ISBN 3-476-01857-1
  • Hans Ulrich Gumbrecht, Eine Geschichte der spanischen Literatur, 1484 Seiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, ISBN 3-518-58062-0
  • Christoph Strosetzki, Geschichte der spanischen Literatur, 404 Seiten, Tübingen: Niemeyer, 2., unveränd. Aufl. 1996, ISBN 3-484-50307-6
  • Max Henríquez Ureña, Breve historia del modernismo. México: Fondo de Cultura Económica, 1978. (spanisch)
  • Guillermo Díaz-Plaja, Modernismo frente a noventa y ocho: una introducción a la literatura española del siglo XX. Madrid: Espasa-Calpe, 1979. (Selecciones Austral, 65) (spanisch)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Carlos Granés: Delirio Americano. Barcelona 2022, S. 23 f.
  2. zit. nach Carlos Granés: Delirio Americano. Barcelona 2022, S. 21.
  3. Ina Kühne: Mythen im lateinamerikanischen Modernismo. Uni Siegen.
  4. Granés 2022, S. 30
  5. Marina Cabral: O Modernismo no Brasil. Brasil Escola, portugiesisch, abgerufen am 22. Januar 2013.
  6. Marina Cabral: O Modernismo no Brasil – 2ª fase. Brasil Escola, portugiesisch, abgerufen am 22. Januar 2013.
  7. Modernismo (Terceira Geração) auf Itaù Cultural, portugiesisch, abgerufen am 22. Januar 2013.
  8. Juana de Ibarbourou ist den Literaturgeschichten zufolge 1892 geboren, bestand jedoch immer darauf 1895 geboren zu sein.