Maritime Soziologie

Die Meuterei auf der Bounty ist weltweit die berühmteste Meuterei
und ein typisches Beispiel
der Besonderheiten
eines Aufstandes auf See

Die Maritime Soziologie (von lat. mare „Meer“) ist eine Spezialisierung innerhalb der Soziologie. Sie befasst sich mit sozialen Prozessen rund um menschliche Aktivitäten mit und auf dem Meer. Dazu gehören etwa die die Schifffahrt in Küstenmeeren und auf hoher See, Fischerei, Meeres- und Küstentourismus, Küstenmanagement und Meeresbergbau. Außerdem befasst sich die Disziplin mit den Bezügen dieser Themenfelder zu seegestützten politischen, wirtschaftlichen, militärischen, beruflichen, kulturellen, brauchtumsmäßigen und religiösen Institutionen. Auch sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse unter maritimen Gesichtspunkten Gegenstand der maritimen Soziologie.

Zur Thematik

Seekarten waren zu Beginn der frühneuzeitlichen kolonialen Expansion oft Staatsgeheimnisse.
Hier eine Portolankarte von 1318 von Pietro Vesconte:
Westliches Mittelmeer mit Korsika, Sardinien und Sizilien

Der Themenreichtum der Maritimen Soziologie nähert sie der allgemeinen soziologischen Theorie an. Da es in dieser jedoch bislang nahezu ausschließlich um festlandbezogene Fragestellungen geht, ist die Maritime Soziologie als eine Spezielle Soziologie einzustufen.

Diesbezügliche Forschungen wurden zunächst weit zerstreut erarbeitet und publiziert, wie zum Beispiel:

  • Ferdinand Tönnies über die soziale Lage von Hafenarbeitern und Seeleuten[1] in Seehäfen[2]
  • Bronislaw Malinowski über das religiöse und fernhändlerische melanesische Kula[3]
  • Franz Borkenau über die Mentalitätsänderungen in der Völkerwanderung bei denjenigen Völkerschaften der Kelten (Iren) und Germanen (Normannen, Wikinger), die das Festland verließen, da sich auf seegehenden Schiffen die Führungsverantwortung änderte und zuspitzte.[4]
  • Die Theorie des polnischen Soziologen Ludwik Janiszewski über die Marinisierung ("Marynizacja").[5] Der Begriff beschreibt eine historische Tendenz der zunehmenden Verflechtung des Terrestrischen mit dem Maritimen bzw. eine tendenziell wachsende Bedeutung der Beziehungen zum Meer und der Meeresnutzung für menschliche Gesellschaften.[6]

Derzeit ist die Maritime Soziologie in Mitteleuropa an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und an der Universität Szczecin (Stettin) (Polen) vertreten. Ihre Materien erscheinen auch in den Lehrplänen der nautischen Fach- und Fachhochschulen, wo sie meist als Problemstellungen der Fachausbildung und der Führung von Schiffsmannschaften behandelt werden.

In vielen anderen Ländern, wie zum Beispiel USA, Kanada und Spanien ist sie Bestandteil von Spezialisierungen oder hat auch eigene Studiengänge, so an der East Carolina University (USA), der University of South Alabama (USA), der Memorial University of Newfoundland (Kanada) und der Universitat Politècnica de Catalunya (Spanien).

Gesellschaftsprägungen

Ganze Kulturen weisen Eigentümlichkeiten auf, die ihre hohe Angewiesenheit auf die Herausforderung durch das Meer und seine Chancen und Gefahren widerspiegeln.

Dies gilt schon seit der Steinzeit (Seefischerei als Hauptnahrungsquelle von Insel- und Küstenbewohnern – siehe auch: Køkkenmøddinger).

Es wird deutlich in den Thalassokratien des Altertums (z. B. Karthago, Athen), in Sonderentwicklungen des Mittelalters (z. B. in Polynesien, auf Island), im auf die Seemacht gestützten Kolonialismus der frühen Neuzeit (z. B. Venedig, Portugal, die Niederlande) bis hin zum Kampf um die weltweite Seeherrschaft ab dem 18. Jahrhundert bis heute (zunächst Großbritannien, dann die USA).

Die sozialen Auswirkungen reichen vom alltäglichen sozialen Handeln (vgl. Seemannssprache, Vereinbarkeit von Familie und Beruf) und von den ‚seemännischen Tugenden‘ (vgl. Mut) bis in die Religion (vgl. die Kulte von Meeresgottheiten, etwa Poseidon) und in besondere ‚Aberglaubens‘-Formen (am bekanntesten wohl der Klabautermann).

Heutige Fragestellungen

Deichsystem
Flugblatt vom November 1896
zum Hamburger Hafenarbeiterstreik
mit Anweisungen zum Verhalten
und zur Bedeutung der Streikkarten

Heutige Fragestellungen der Maritimen Soziologie beziehen sich auf Bereiche, bei denen die soziologische Feldforschung bislang nahezu ausschließlich auf festländische Untersuchungsgegenstände ausgerichtet war, so dass ihre Ergebnisse bei maritimen Problemlagen zu viele Fragen offenlassen. Sie beziehen sich demgemäß:

Wissenschaftliche Zeitschriften

Zur Zeit gibt es keine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich exklusiv der maritimen Soziologie widmet. Allerdings behandelt eine Reihe interdisziplinärer Veröffentlichungen regelmäßig Themen der Disziplin.

  • Asia-Pacific Journal of Marine Science & Education[7]
  • Constanta Maritime University Annals[8]
  • Marine Policy[9]
  • Maritime Policy & Management[10]
  • Maritime Studies[11]
  • Pomorstvo. Scientific Journal of Maritime Research[12]
  • Roczniki Socjologii Morskiej. Annals of Maritime Sociology (1986-2016)[13]
  • WMU Journal of Maritime Affairs[14]

Siehe auch

Literatur

  • Conner Bailey, Svein Jentoft & Peter Sinclair (Hrsg.): Aquaculture Development: Social Dimensions of an Emerging Industry. Westview Press, 1996, ISBN 0813389429
  • Lars Clausen: Schwachstellenanalyse aus Anlass der Havarie der Pallas: Bericht der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein am 4. Mai 1999 erstattet (= Zivilschutz-Forschung. Neue Folge. Band 53). Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz, Bonn 2003 (PDF; 3,825 MB)
  • Norbert Elias: The Genesis of the Naval Profession. University College Dublin Press, Dublin 2007, ISBN 978-1-904558-80-4
  • Heide Gerstenberger & Ulrich Welke (Hrsg.): Das Handwerk der Seefahrt im Zeitalter der Industrialisierung. Edition Temmen, Bremen 1995, ISBN 3-86108-252-7.
  • Heide Gerstenberger & Ulrich Welke: Arbeit auf See. Zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung. Mit DVD Westfälisches Dampfboot, Münster 2004, ISBN 3-89691-575-4.
  • Timo Heimerdinger: Der Seemann. Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung (1844-2003). Böhlau, 2005
  • Ralf Lisch: Totale Institution Schiff. Duncker und Humblot, Berlin 1976, ISBN 3-428-03664-6
  • Bronislaw Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. 2., unveränd. Aufl. Klotz, Eschborn 2001, ISBN 3-88074-450-5. (dt. Übers.; Neuausg. der 1922 erschienenen Erstausg.)
  • Peter A. Munch: Sociology of Tristan da Cunha. Results of the Norwegian Scientific Expedition to Tristan da Cunha 1937-1938. Dybwad, Oslo 1945; 2. Auflage: Ams Press Inc., 1977, ISBN 0685873560.
  • Nicole Gerarda Power: What Do They Call a Fisherman? Men, Gender, and Restructuring in the Newfoundland Fishery (= Social and economic studies. Nr. 69). Iser Books, St. John’s (Neufundland/Kanada) 2006, ISBN 1-894725-02-6.
  • Klaus R. Schroeter: Entstehung einer Gesellschaft. Fehde und Bündnis bei den Wikingern (= Schriften zur Kultursoziologie. Nr. 15). Reimer, Berlin 1994, ISBN 3-496-02543-3. (zgl. Phil. Diss., Univ. Kiel 1993)
  • Ulrich Welke: Der Kapitän. Die Erfindung einer Herrschaftsform. Westfälisches Dampfboot, Münster 1997, ISBN 3-89691-416-2 (zgl. Diss., Univ. Bremen 1996).

Einzelnachweise

  1. Ferdinand Tönnies: Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strike 1896/97. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. 1897, Jg. 10, H. 2, S. 173–238. Vgl. Abb.
  2. Ferdinand Tönnies: Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck. In: Die Lage der in der Seefahrt beschäftigten Arbeiter. Duncker & Humblot, Leipzig 1903, S. 509–614.
  3. Bronislaw Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, 1922
  4. Franz Borkenau: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Stuttgart 1984.
  5. Ludwik Janiszewski: Marynizacja. Przyczynek teoretyczny. In: Roczniki Socjologii Morskiej. Band 4, 1988, S. 5–14.
  6. Arkadiusz Kolodziej: The Concept of Marinization by Ludwik Janiszewski. To Understand the Influence of the Sea. 2020, abgerufen am 13. Februar 2021 (englisch).
  7. Home - Asia Pacific Journal of Marine Science&Education. In: www.msun.ru.Vorlage:Cite web/temporär
  8. Constanta Maritime University Annals. In: annals.cmu-edu.eu.Vorlage:Cite web/temporär
  9. Marine Policy. (Online).
  10. Maritime Policy & Management Aims & Scope. In: www.tandfonline.com.Vorlage:Cite web/temporär
  11. Maritime Studies (englisch) In: Springer.
  12. Pomorstvo. University of Rijeka, Faculty of Maritime Studies (kroatisch, Online).
  13. Roczniki Socjologii Morskiej Annals of Marine Sociology. In: Roczniki Socjologii Morskiej Annals of Marine Sociology. 2011, ISSN 0860-6552, OCLC 826592291 (polnisch, Online).
  14. WMU Journal of Maritime Affairs (englisch) In: Springer.

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Dampfschiff Lauenburg des Kapitän J. Burmester in Hamburg
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Pietro Vesconte

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Portolankarte von Pietro Vesconte, 1318, westliches Mittelmeer mit Korsika, Sardinien und Sizilien

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(c) Olaf Roehling, CC BY-SA 3.0
Deichsystem, Deicharten
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Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97, Flugblatt von Ende November 1896 mit Instruktionen zum Umgang mit der Streikkarte und mit weiteren Anweisungen
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Bligh und die anderen verlassen die HMS Bounty und steigen in das Beiboot.
  • Künstler: Robert Dodd, 1790