Konkrete Poesie

Konkrete Poesie (lateinisch concretus ‚dicht, fest‘; altgriechisch ποίησιςpoiesis, deutsch ‚Dichtung‘) bezeichnet in der Dichtung eine bestimmte Herangehensweise an die Sprache. Die Sprache dient nicht mehr der Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sondern sie wird selbst zum Zweck und Gegenstand des Gedichts. Die Sprache stellt sich also selbst dar. Dabei wird allerdings sehr viel Wert auf die Gestaltung gelegt.

Definition

Fisches Nachtgesang
(Christian Morgenstern)


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Die Konkrete Poesie verwendet die phonetischen, visuellen und akustischen Dimensionen der Sprache als literarisches Mittel. Diese Form der Literatur möchte sich nur noch auf ihre eigenen Mittel beziehen: Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen werden aus dem Zusammenhang der Sprache herausgelöst und treten dem Betrachter „konkret“, d. h. für sich selbst stehend, gegenüber. Diese sprachliche Demonstration soll ein Gegenpol zur sprachlichen Reizüberflutung sein. Sprache hat im „konkreten Gedicht“ keine Verweisfunktion mehr. Die Methode der Konkreten Poesie ist eine antipoetische Meditation über die Bedingung der Möglichkeit der poetischen Gestaltungsweise. Es gibt kein „Gedicht über“, sondern nur noch eine Realität des sprachlichen Produkts an sich.

Geschichte

Der Begriff Konkrete Poesie entstammt der Bildenden Kunst, von Theo van Doesburgs Zeitschrift Art concret (1930), nach der die Konkrete Kunst benannt ist. Als das Konkrete eines Bildes bezeichnete er die Bildelemente Punkt, Linie, Fläche, Farbe. Diese Definition von „konkret“ wurde auf Dichtung und Fotografie übertragen. Davon unabhängig prägte Pierre Schaeffer den Begriff Musique concrète. Allen konkreten Kunstrichtungen gemein ist das Herauslösen der (postulierten) Elemente der Künste und ihre Darstellung als eine eigene Realität.

Eugen Gomringers Aufruf vom vers zur konstellation (1954)[1] gilt als das Gründungsmanifest der konkreten Dichtung, allerdings war der Künstler, Kunsttheoretiker und Schriftsteller Öyvind Fahlström bereits auf den Begriff gekommen.[2]

Die Wörter sind für Gomringer nicht mehr Bedeutungsträger, sondern sie werden als visuelle (d. h. das Sehen betreffende) und phonetische Gestaltungselemente eingesetzt. So soll mit der graphischen Anordnung des Textes seine inhaltliche Bedeutung unterstrichen oder ironisiert werden. Die entscheidende poetische Tätigkeit ist dabei die Konstruktion, die neuartige Zusammensetzung der einzelnen Sprachelemente. Gomringer nennt seine Gedichte „Konstellationen“. Diese Herangehensweise löst Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen aus dem Zusammenhang der Sprache heraus.

Viele deutschsprachige Vertreter der Konkreten Poesie gehörten dem Umkreis der Wiener Gruppe und der Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense an.

Spiel mit der inhaltlichen Bedeutung:

             wolke     wolke
          wolkewolkewolkewolke
        wolkewolkewolkewolke
           wolkewolkewolkewolke
            wolke     wolke
              B        B
             L          Lb
              I         I  l  i  t z
             T           T   i
              Z         Z     tz

Brasilien

In São Paulo entstand die Konkrete Poesie weitgehend unabhängig von europäischen Entwicklungen im Rahmen der Künstlergruppe Noigandres: Augusto de Campos, Décio Pignatari und Haroldo de Campos beriefen sich allerdings auf die Autorität der Avantgarde von Mallarmé bis James Joyce, Ezra Pound und E. E. Cummings. Wichtig waren die konkrete Malerei, Piet Mondrians Boogie-woogie Bildserie und Alexander Calders Mobiles, Anton Weberns Klangfarbenmelodie und Ezra Pounds Theorie des Ideogramms, mit der er Ernest Fenollosas verwegener Theorie des chinesischen Schriftzeichens folgte. Max Bill erhielt 1951 den Internationalen Preis der ersten Biennale von São Paulo und saß zwei Jahre später in der Jury. Als sich Designer Pignatari im Jahr 1955 die Hochschule für Gestaltung Ulm ansah, lernte er Max Bills Sekretär Eugen Gomringer kennen.

Im Jahr 1956/57 wurde die Erste nationale Ausstellung konkreter Kunst in São Paulo und Rio de Janeiro gezeigt.[3] 1958 veröffentlichte Noigandres das Manifest Plano-piloto para poesia concreta.[4] Das Wort sollte nicht mehr als bloßen Träger von Bedeutung wahrgenommen werden, sondern in seiner Gesamtheit. Es sollte als Artefakt poetisch werden (die Trennung von Signifikat und Signifikant sollte in der Dichtung aufgehoben werden).

Die Konkrete Poesie führte zu einer Umwälzung der brasilianischen Dichtung. Allerdings gab es bereits im Vorfeld der Militärdiktatur (1964–1985) Kritik an ihrer vordergründigen Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen, vor allem die politische Linke forderte stattdessen eine Dichtung, die auf die sozialen Missstände im Land aufmerksam macht. Großen Einfluss entwickelte die Konkrete Poesie auf die Künstler des Tropicalismo (Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa, Chico Buarque, José Carlos Capinam, Jards Macalé u. a.) Ende der 1960er Jahre. Mit dem Tropicalismo gelang eine Überwindung der ideologischen Grabenkämpfe unter den Dichtern. Gleichzeitig floss die Konkrete Poesie in die moderne brasilianische Musik ein.

Die brasilianische Konkrete Poesie führte vor allem seit den 1970er Jahren zu einer grafischen Erneuerung des Wortes auf allen Ebenen der Gesellschaft, ihre Innovationen wurden ebenso in der Werbung wie in der politischen Propaganda genutzt. Der Einfluss der Konkreten Poesie ist bis in die Gegenwart spürbar, Künstler wie Arnaldo Antunes setzen die Tradition fort.

Gegenwart

Poèmes à Lou
(Guillaume Apollinaire 1914)

 

Die Trichter
(Christian Morgenstern 1905)

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
w.

 
Apfel

(Reinhard Döhl 1965)

 
 
Idee des Döhl

(Joseph Felix Ernst 2011)

 
 
Freiheitlich-demokratische Grundordnung

(Wolfgang Lauter 1978)

Gruppen oder „die Vertreter“ der Konkreten Poesie gibt es heute nicht mehr so wie in den letzten Jahrzehnten. An die Stelle der Gruppen sind sehr wenige Einzelvertreter getreten, die – begünstigt durch die Entwicklung der Medien und auch der Werbung – kühner in ihren Entwürfen und Werken geworden sind. An die Stelle von starren Dogmen dieser gestalterischen Literatur (z. B. Konkrete Poesie stellt ausschließlich sich selbst dar) ist das Spiel mit dem Wort und den Buchstaben getreten. Es geht vor allem um

  • das Spiel mit Bedeutungen
  • das Spiel mit der räumlichen Dimension der Schrift (z. B. verschiedenen Schriftgrößen)
  • das Spiel mit der räumlichen Positionierung der Buchstaben/Worte

Es gibt inzwischen auch den Begriff des „Wortbildes“ als Bezeichnung für dieses Sprachprodukt – neben der Bezeichnung „visuelle“ oder „konkrete“ Poesie. Gomringer hat sein Museum, andere Vertreter dieser Poesie haben beachtete Anthologien gemacht (siehe E. Williams), die Entwicklung des visuellen Aspektes in der Schriftsprache aber geht weiter. Das spricht für ihre Dynamik – auch wenn sie im Literaturbetrieb fast unbeachtet bleibt. Konkrete Poesie ist die Leidenschaft der Intellektuellen unter den Poeten. Die Zeiten, in denen großartige Anthologien Konkreter Poesie publiziert wurden, scheinen allerdings vorerst vorüber zu sein.

Dichter und Dichterinnen der Konkreten Poesie (Auswahl)

Ausstellungen

Siehe auch

Literatur

Anthologien (Auswahl)

  • John J. Sharkey: Mindplay: An Anthology of British Concrete Poetry. Lorrimer Pub. Ltd., London 1971
  • Liesbeth Crommelin (Hrsg.): klankteksten/ konkrete poezie/ visuelle teksten. Stedelijk Museum, Amsterdam 1970
  • Jean Francois Bory (Hrsg.): Bientot. 1967. Englische Übersetzung: Once Again, New Directions 1968
  • Emmett Williams (Hrsg.): An Anthology of Concrete Poetry, edition hansjörg mayer, Stuttgart und Something Else Press, New York, Villefranche, Frankfurt, 1967 (eine der besten Anthologien der konkreten Poesie, von internationaler Relevanz). Ohne ISBN.
  • John Jessop (Hrsg.): International Anthology of Concrete Poetry. Missing Link Press, Poetry Toronto Books, Toronto 1978
  • Beloit Poetry Journal, Bd. 17, Nr. 1, 1966
  • Eugene Wildman (Hrsg.): An Anthology of Concretism. Chicago Review, Bd. 19, Nr. 4, September 1967
  • Safiye Can, Jürgen Krätzer (Hrsg.): Das Wort beim Wort nehmen. Konkrete und andere Spielformen der Poesie 2, die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Bd. 272, Göttingen 2018.
  • Eugen Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie: deutschsprachige autoren. Reclam, Stuttgart 1972. Neuauflage 2001. ISBN 978-3-15-009350-4
  • Stephen Bann (Hrsg.): Concrete Poetry: An International Anthology. London Magazine Editions, London 1967* Max Bense, Elisabeth Walther (Hrsg.): konkrete poesie international. rot, Nr. 21, Stuttgart 1965. Ein zweiter Band erschien: rot, Nr. 41, Stuttgart 1970
  • Mary Ellen Solt (Hrsg.): Concrete Poetry: A World View. Indiana University Press, Bloomington 1968, ISBN 978-0-253-11300-9. Neuausgabe als Taschenbuch 1970, ISBN 978-0-253-11301-6. Text als html auf UbuWeb
  • Safiye Can, Jürgen Krätzer (Hrsg.): Das Wort beim Wort nehmen. Konkrete und andere Spielformen der Poesie 1, die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Bd. 271, Göttingen 2018

Sekundärliteratur

  • Dieter Kessler: Untersuchungen zur Konkreten Dichtung: Vorformen, Theorien, Texte. Meisenheim am Glan 1976.
  • Michael Glasmeier: buchstäblich wörtlich wörtlich buchstäblich. Berlin 1987.
  • Thomas Kopferman (Hrsg.): Theoretische Positionen zur konkreten Poesie. Texte und Bibliographie. Tübingen 1974
  • Bob Cobbing, Peter Mayer: Concerning Concrete Poetry. Writers Forum, London 1978
  • Ulrich Ernst: Konkrete Poesie. Innovation und Tradition. Katalog zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Wuppertal, Wuppertal 1991.
  • Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Nr. 56). Weinheim 1987
  • Helmut Bachmaier: Das Konkrete in der Dichtung. In: Harras 20. Anthologie konkreter und visueller Poesie. 2005, S. 17–22, ISBN 3-908141-34-6.
  • David William Seaman: French Concrete Poetry: The Development of a Poetic Form from the Origins to the Present Day. Stanford 1970
  • Text & Kritik, Nrn. 25, 30: Konkrete Poesie, 2 Bände, München 1970/71.
  • Michael Fisch: Konkrete Poesie: Anfang und Ende einer außergewöhnlichen Kunstform. – Über Beispiele und Muster der Konkreten Poesie und über Grenzen und Möglichkeiten experimenteller Schreibweisen. In: Sechzig Jahre Bundesrepublik Deutschland. Forschungsbeiträge tunesischer und deutscher Germanistinnen und Germanisten. Iudicium, München 2009, ISBN 978-3-89129-987-6, S. 77–101.
  • Harald Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, Göttingen 1975
  • Augusto de Campos, Décio Pinatari, Haroldo de Campos: Theoria da poesia concreta. Textos críticos e manifestos 1950–1960. Edições Invenção, 1965.
  • Thomas Kopferman: Konkrete Poesie: Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde. Lang, Frankfurt/Main, Bern 1981.
  • Klaus Peter Dencker, Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin, New York 2011 (Konkrete Poesie S. 312 ff)
  • Liselotte Gimpel: ‚Concrete‘ Poetry from East and West Germany: the Language of Exemplarism and Experimentalism. Yale University Press, New Haven 1976
  • Per Bäckström: “Words as things. Concrete Poetry in Scandinavia”, 'Cahiers de la nouvelle Europe’’: special issue ’’Transfers, Appropriations and Functions of Avant-Garde in Central and Northern Europe, 1909–1989’’, Paris: L’Harmattan, 2012.

Bibliographie

  • Kathleen McCullough: Concrete Poetry; An Annotated International Bibliography, with an Index of Poets and Poems. Whitston Publishing, Troy NY, 1989

Weblinks

Einzelnachweise

  1. In: Neue Zürcher Zeitung, 1. August 1954.
  2. Öyvind Fahlström: Hätila ragulpr på fåtskliaben: Manifest för konkret poesi. In: Odyssé, Nr. 3–4, 1954. Geschrieben 1953. Auf Fahlströms Webseite wird der Titel so übersetzt: Hipy Papy Bthuthdth Thuthda Bthuthdy: Manifesto for Concrete Poetry
  3. 1. Exposição Nacional de Arte Concreta, Museu de Arte Moderna, São Paulo, 4.–18. Dezember 1956, Kultur- und Erziehungsministerium, Rio de Janeiro, Februar 1958. Das Museum für Moderne Kunst in Sao Paulo wurde 1948 eröffnet, das Kunstmuseum der Stadt 1947.
  4. Augusto de Campos, Décio Pignatari, Haroldo de Campos: Plano-piloto para poesia concreta. In: Noigandres, Nr. 4, März 1958. Die erste Nummer der Zeitschrift, mit Versgedichten, erschien 1952. Die zweite Ausgabe vom Februar 1955 brachte die radikaleren Poetamenos Gedichte (geschrieben von Januar bis Juli 1953) und theoretische Aufsätze, in denen der Ausdruck Konkrete Poesie zum ersten Mal benutzt wird.
  5. Buchstaben zu Bildern. In: FAZ, 1. März 2016, S. 13.

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Calligramme.jpg
Apollinaire, Gedicht aus den Calligrammes.
FdGrundordnung.gif

Wolfgang Lauter: Freiheitlich-demokratische Grundordnung, 1978, Siebdruck, 57 cm x 79 cm, signiert und nummeriert, Auflage 150. Abgedruckt im Magazin »Der Spiegel« Nr. 52 / 1977.

Das Textbild stellte einen künstlerischen Kommentar zu den Notstandsgesetzen der 1970-er Jahre dar. Justizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) äußerte sich 1977 in einem Spiegel-Interview:

„Generell und abstrakt können viele kleine Veränderungen selbstverständlich zu einer qualitativen Veränderung der Rechtsordnung führen. Konkret ist dies aber bei uns nicht der Fall.“

Lauter´s der Konkreten Poesie verwandtes Textbild will hingegen, Zeile für Zeile, eine mögliche qualitative Veränderung der Rechtsordnung durch „viele kleine Veränderungen“ aufzeigen: siehe z. B. „Ordiheitlich-demokratische Grundordnung“ (Zeile 3), “Ordatische Grundordnung“ (Zeile 17), „Ordnung or Grundordnung“ (Zeile 23). In der letzten Zeile wäre die Freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigt
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Reinhard Döhl

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