Karolingische Minuskel

Alphabet der karolingischen Minuskel
Älteste datierbare karolingische Minuskel, Corbie, um 765 (Staatsbibliothek zu Berlin)

Die karolingische Minuskel, auch karlingische Minuskel oder Carolina genannt, ist eine bestimmte Minuskel-Schrift, die Mitte des 8. Jahrhunderts als Regionalschrift im Königskloster Corbie und weiteren Orten entstand und sich anschließend unter Karl dem Großen in ganz Europa verbreitete. Sie zeichnet sich durch Klarheit und Einfachheit des Schriftbildes aus. Aus ihr entwickelten sich über die gotische Minuskel die Kleinbuchstaben der deutschen Schriften (Druck- und Schreibschriften) und über die humanistische Minuskel die heutigen Kleinbuchstaben der lateinischen Schrift (Antiqua und lateinische Schreibschrift).

Entstehung und Verbreitung

Auszug aus der Grandval-Bibel in karolingischer Minuskel (London, British Library)
Spätform der karolingischen Minuskel aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts: Bedas Kommentar der Proverbien (Stadtarchiv Bozen)

Die karolingische Minuskel entstand durch eine fortschreitende Kalligraphierung der jüngeren römischen Kursive,[1] nach anderen Autoren lag ihr die Halbunziale zugrunde.[2] Sie entstand in verschiedenen Zentren des fränkischen Reiches, darunter der Abtei Corbie, Tours, Luxeuil und Laon.[3] Das bisher älteste belegte Zeugnis ist eine Handschrift, die um 765 im Skriptorium von Corbie unter Abt Leutchar entstanden ist und die auf drei Seiten erste Umsetzungsversuche der karolingischen Minuskel aufweist.

Unter der Herrschaft Karls des Großen wurde eine Neubelebung des antiken Schul- und Bildungswesens eingeleitet und eine Rückbesinnung auf das buchstabierende Schreiben stark gefördert. An seiner Hofschule (Ada-Gruppe) wurde die neue Schrift allmählich vereinheitlicht. Ab dem 9. Jahrhundert breiteten sich die karolingischen Minuskeln von den Schreibzentren des Karolingerreiches (u. a. Tours, Reims und Aachen) sehr schnell aus. So erreichte sie etwa auch das Kloster Saint-Martin de Tours unter dem Abt Alkuin von York.

Die karolingische Minuskel ersetzte die bis dahin gebräuchliche lateinische Schrift in Großbuchstaben (Majuskel) und die Unziale, eine Schriftart, die durch Abrundung der Buchstaben der römischen Capitalis und der Quadrata entstanden war. Auch die bis dahin verbreiteten Kursiven wurden unter dem Einfluss der neuen Schrift verdrängt.[2] Die Gebrauchs- und die Buchschrift folgen fortan einem einheitlichen Muster: Die Minuskelschrift verfügt über Ober- und Unterlängen, die Wörter sind klar voneinander abgesetzt, Zeilenanfänge können mit Schmuck- oder Großbuchstaben hervorgehoben werden, der Fein-Fett-Kontrast der Striche ermöglicht gute Lesbarkeit.[4]

Schriften des lateinischen Alphabets - Die Karolingische Minuskel als ein Ankerpunkt

Weitere Entwicklung

Gegen Ende des 11. Jahrhunderts entwickelte sich in Belgien und Nordfrankreich aus der karolingischen Minuskel die frühgotische Minuskel als neuer Schrifttyp, der sich rasch in ganz Europa verbreitete und die karolingische Minuskel verdrängte. Später entwickelten sich aus den karolingischen Minuskeln die gotische Minuskel und die humanistische Minuskel. Die Beschäftigung mit den Autoren der Antike führte erst die italienischen Humanisten wieder auf die frühmittelalterlichen, meist karolingischen Handschriften zurück, die oft die ältesten erreichbaren Überlieferungszeugen dieser Texte waren. Die Imitation dieser als Schrift der „Alten“ (miss-)verstandenen karolingischen Minuskel wurde auch für den Buchdruck verwendet (Antiqua) und blieb bis heute in Gebrauch. Die karolingische Minuskel bildet demnach die Grundlage für unsere heutigen Kleinbuchstaben sowohl der Schreib- als auch der Druckschrift.

In karolingischen Handschriften wird eine Schrifthierarchie verwendet, mit der einleitende Seiten gestaltet wurden. Neben einer Initiale stehen an der Spitze der Hierarchie und damit am Anfang der Seite die Capitalis, bei weiterem Abstufungsbedarf dann Unzialschriften und schließlich noch Halbunzialen, bevor der „Normal“-Text in Minuskel folgt. Viele unaufwendige Handschriften gehen allerdings über eine zweistufige Hierarchie (Capitalis und Minuskel) nicht hinaus.

Die rätische Schrift ähnelt der karolingischen Minuskel.

Formentwicklung

Seit Mitte des 8. Jahrhunderts bildeten sich in den stark mit Ligaturen durchsetzten Halbkursiven wieder verstärkt die einzelnen Buchstaben aus. Die karolingische Minuskel ist erstmals um 765 in Corbie nachzuweisen. In der ersten Phase enthielt die karolingische Minuskel gleichwohl noch zahlreiche Ligaturen und extreme regionale Ausformungen. In einer um 820 einsetzenden zweiten Phase wurde die Schriftgestaltung einheitlicher, die Buchstaben wurden schlanker und fast immer rechtsgeneigt geschrieben. Im späten 9. Jahrhundert ist zunehmend eine Erstarrung der Formen zu erkennen, oft auch bereits mit An- und Abstrichen, die Zahl der verwendeten Ligaturen nimmt wieder zu. Im 11. Jahrhundert bildete sich in Süddeutschland der nach seiner Form für das „o“ benannte schrägovale Stil heraus, der für etwa 200 Jahre vorherrschend blieb.

Schriftbeispiel

Handschrift aus dem Besitz König Ludwigs des Deutschen, um 830 bzw. um 870

Verschiedene Arten der karolingischen Minuskel weist eine Handschrift aus dem Besitz König Ludwigs des Deutschen, das sogenannte Muspilli-Manuskript, auf. Unter einem lateinischen Text aus dem Jahre 830 wurde um das Jahr 870 das altbairische Muspilli-Gedicht hinzugefügt. Zu erkennen sind eine kalligraphische karolingische Minuskel (links), eine Capitalis als Auszeichnungsschrift für die Widmungsadresse (rechts) sowie die ungelenke deutsche karolingische Minuskel als Nachtrag aus dem späten neunten Jahrhundert am unteren Rand.

Siehe auch

Literatur

  • Tino Licht: Die älteste karolingische Minuskel. In: Mittellateinisches Jahrbuch. Internationale Zeitschrift für Mediävistik und Humanismusforschung 47, Stuttgart 2012, S. 337–346 (Digitalisat).
  • Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters Berlin (= Grundlagen der Germanistik 24). Schmidt, Berlin 1979, ISBN 3-503-01282-6.
  • Anne Schmidt: Schriftreform – Die karolingische Minuskel. In: Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hrsg.): 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Beitrags-Band. von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2590-8, S. 681–691.
  • Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Hirzel, Leipzig 1871.

Weblinks

Commons: Karolingische Minuskel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Julia Becker, Tino Licht, Stefan Weinfurter: Karolingische Klöster: Wissenstransfer und kulturelle Innovation. Walter de Gruyter & Co KG, 2015, ISBN 978-3-11-038614-1 (books.google.com).
  2. a b Fritz Funke: Buchkunde: Ein Überblick über die Geschichte des Buches. Walter de Gruyter & Co KG, 2012, ISBN 978-3-11-094929-2, S. 30 (books.google.com).
  3. Helmut Glück: Metzler Lexikon Sprache. Springer, 2016, ISBN 978-3-476-00088-0, S. 307 (books.google.com).
  4. Udo Kindermann: Die kulturellen Auswirkungen der Einführung der karolingischen Minuskel, in: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden im historischen Wandel (= Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen, Bd. 4), Bad Heilbrunn 1986, S. 103–125.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Bozen Stadtarchiv Fragment Beda Venerabilis 12 jh recto.jpg
Autor/Urheber: Stadtarchiv Bozen, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Fragment of the Venerable Bede's Commentary on Proverbia Salomonis, copy of the mid 12th century
Berlin Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz theol lat fol 354 fol 1v.jpg
Berlin Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz theol lat fol 354 (Gregorius Magnus: Moralia in Iob), fol 1v mit karolingischer Minuskel aus der Zeit vor Karl dem Großen, siehe http://archiv.twoday.net/stories/233326015/
Muspilli.jpg

english: Page of the Muspilli manuscript from the 9th century. Old bavarian poem added on the bottom about 870 to the latin text from about 830 above. Today stored in Munich, Bavarian State Librarey (Bayerische Staatsbibliothek) signiture Clm. 14098, f. 119v und 120r
castellano: una pagina del manuscrito Muspilli del siglo IX. Poema en bávaro antiguo que era escrito alrededor del año 870 abajo de un texto latin del año 830. Arquivado hoy en la bilbioteca del Estado libre de Baviera (Bayerische Staatsbibliothek) en Munich, signatura Clm. 14098, f. 119v und 120r
boarisch: Saitn fum Muspilli Manuskript ausn 9tn Joahundat. Åid-Boarischs Gedicht wås ungefea um 870 auf da untan Saitn fu am latainischn Dext ausn Joa 830 dazua gschrim woan is. Ligt haid in da Boarischn Schdådsbibliodek (Bayerische Staatsbibliothek) in Minga unta da Signatua Clm. 14098, f. 119v und 120r

deutsch: Seite des Muspilli-Manuskriptes aus dem 9. Jahrhundert. Ein alt-bayerisches Gedicht wurde um 870 unterhalb des lateinischen Textes aus dem Jahre 830 hinzugefügt. Heute wird es in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt, unter der Signatur Clm. 14098, f. 119v und 120r
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Karolingische minuskel
Evolution lateinischer Schriften zur Antiqua.png
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Schriften des lateinischen Alphabets - Wichtige Schritte in der Entwicklung zur Antiqua.

Bildzitate aus diversen Veröffentlichungen als Veranschaulichungen der Schriften (wissenschaftliches Zitat).

Die meisten Schriftbeispiele stammen aus: Muzika František: "Die schöne Schrift in der Entwicklung des lateinischen Alphabets. I"
Vulgata Alkuin 840 S2.jpg
Illustrierte Handschrift von Alkuins Bibeltext um 840 in Tours entstanden, in karolingischen Minuskeln