Jean de Labadie

Jean de Labadie

Jean de Labadie (* 13. Februar 1610 bei Bourg bei Bordeaux; † 13. Februar 1674 in Altona) war ein mystischer Jesuit, konvertierte zur reformierten Kirche und wurde ein pietistischer Separatist.

Leben

Jean de Labadie studierte als junger Mann an französischen Jesuitenkollegien und trat diesem Orden bei. Bald verließ er 1639 den Orden auf eigenes Ersuchen, angeblich wegen gesundheitlicher Gründe. Kurz vorher hatte er die Priesterweihe empfangen. Bereits während seiner Studienzeit hatte er mystische Erfahrungen gemacht, die ihn zu der Überzeugung brachten, dass er eine wichtige Aufgabe im Dienst des Reiches Gottes wahrnehmen sollte. Die nächsten zehn Jahre wirkte er als Wanderprediger.

Am 16. Oktober 1650 trat er zur reformierten Kirche über. In Montauban war er 1652 als Prediger angestellt worden und arbeitete an der dortigen reformierten Akademie mit. Nachdem er dort verbannt worden war, übernahm er das gleiche Amt 1657 in Orange und 1659 in Genf. Hier sammelte sich ein begeisterter Kreis von Anhängern um ihn. Er hielt besondere Zusammenkünfte, ähnlich den Konventikeln der niederländischen Nadere Reformatie. Diesen Kreis betrachtete er als wahre Kirche nach dem Vorbild des Urchristentums. Auch Philipp Jakob Spener, der Begründer des Pietismus in den lutherischen Kirchen Deutschlands, gehörte zu seinen Predigthörern und wurde von ihm beeinflusst. Sein prophetischer Anspruch und seine Abweichungen von der reformierten Orthodoxie erregten aber auch Widerspruch, besonders seine chiliastischen Anschauungen. Labadie wurde von seinen Bewunderern als zweiter Calvin gefeiert. So versuchte man ihn in Genf zu halten, als er 1666 eine Berufung nach Middelburg in Zeeland zur Betreuung der wallonischen Gemeinde bekam. Labadie nahm jedoch diese Berufung an.

Auch in den Niederlanden hatte sein Wirken ein sehr unterschiedliches Echo. Neben vielen Anhängern, die er an seiner neuen Wirkungsstätte gewann, setzten sich andere Vertreter der Nadere Reformatie kritisch von ihm ab. Sein Ziel in Middelburg war das gleiche wie in Genf: innerhalb der bestehenden Kirche die wahre Kirche der Wiedergeborenen herzustellen.

Durch seine schriftstellerische Tätigkeit konnte er seine Ideen weit verbreiten. Meist schrieb er auf Französisch. Seine Werke wurden ins Niederländische übersetzt, teilweise auch ins Deutsche. Für ein christliches Leben in der Nachfolge Jesu war ihm die Absage an die Welt besonders wichtig. Die Lehre vom Heiligen Geist bekam in seinen Gedanken eine zentrale Stellung, so auch in der Lehre von der Heiligen Schrift. Als sein Utrechter Kollege Louis Wolzogen eine sachlich-rationale Schriftinterpretation propagierte, protestierte Labadie heftig.[1] Der Heilige Geist redet nach Wolzogen nur in der Heiligen Schrift. Für ihn ist Labadies Auffassung, dass dieser auch außerhalb der Schrift rede, schwärmerisch. In der Auseinandersetzung mit Labadie stellte sich die Synode von Naarden auf die Seite Wolzogens und suspendierte Labadie. 1669 wurde er endgültig abgesetzt und aus Furcht vor Unruhen des Landes verwiesen.

Labadisten

Mit seinen Anhängern fand de Labadie Aufnahme in Amsterdam, wo die Gruppe eine freie Hausgemeinde bildete. Seine Separation von der reformierten Kirche entfremdete die Anhänger der Nadere Reformatie endgültig von Labadie.

Durch Vermittlung Anna Maria von Schürmanns, die sich den Labadisten angeschlossen hatte, emigrierte die Gruppe 1670 nach Herford. Als Catherine Martini vom Assistenten Labadies, Pierre Yvon (1646–1707), schwanger wurde, gab die Gruppe den bisher selbst von Eheleuten geforderten Zölibat auf, Labadie heiratete selbst 1671 die attraktive Lucia (geb. van Aerssen, 1649–1707).[2][3] Als ihn 1672 ein Edikt des Reichskammergerichts auch von dort vertrieb, ging er nach Bremen und endlich nach Altona, wo er 1674 starb.

Im selben Jahr ging die Gemeinschaft mit etwa 150 Mitgliedern wieder in die Niederlande zurück, wo sie in Schloss Waltha bei Wieuwerd in Westfriesland, das den drei Schwestern Anna, Maria und Lucia von Aerssen vererbt worden war, als „reformierte und von der Welt abgesonderte Gemeinde“ bis ins 18. Jahrhundert fortbestand. Ihre Zahl wuchs dort auf mehrere hundert an. Wichtiger Verteidiger der labadistischen Gemeinde und ihrer Theologie wurde Pierre Yvon, der 1695 auch die Witwe Labadies ehelichte.[4]

Seine Anhänger, die Labadisten, wichen zwar äußerlich kaum von der Lehre der reformierten Kirche ab, orientierten sich aber an einem katholisch-klösterlichen Lebensideal und lebten lange Zeit in Gütergemeinschaft von eigener Handarbeit.

Als die Zahl über 600 stieg, wurden zwei Projekte der Auswanderung geschaffen, eines in Maryland, wo der Gemeinde der aus Böhmen stammende Landbesitzer Augustine Herman[5] 1683 etwa 15 km² Land in Bohemia Manor in Cecil County über zwei Gesandte, Jasper Danckaerts[6] und Peter Schlüter, verkaufte. Das Geschäft wurde in New Netherland, dem späteren New York, abgeschlossen.[7] Die Gruppe erreichte in Maryland eine Größe bis zu maximal 200 Mitgliedern, der „Bischof“ Schlüter herrschte diktatorisch und vereinnahmte das Land für sich. Ein anderes Projekt zielte nach Suriname, wo Cornelis van Aerssen 1683 Gouverneur geworden war, dessen Schwestern Schloss Waltha gehörte.[4] Lucia ging mit nach Suriname, begründete dort La Providence mit und teilte ihre exotischen Eindrücke von dort nach ihrer Rückkehr. Auf der Zuckerplantage wurden auch afrikanische Sklaven unter harten Zwängen eingesetzt, die deshalb zu fliehen versuchten. Beide Projekte scheiterten an den klimatischen Bedingungen und dem feindlichen Umfeld, der Besitz in Suriname ging bis 1700, der in Maryland bis 1720 wieder verloren.

Unter Labadies Anhängern zeichnete sich namentlich die gelehrte Anna Maria von Schürmann aus, die hier 1678 verstarb. Zeitweilig lebte danach auch Maria Sibylla Merian in der Gemeinschaft der Labadisten, verließ sie aber 1691 wegen der geringen Bildungsmöglichkeiten und befürchteten strengen Regulierung ihrer beiden Töchter.[8] John Locke besuchte die Gemeinschaft am 21. August 1685, nur zugelassen zum Gespräch in einem Haus vor dem Schlosstor, wozu er im Tagebuch festhielt:

„Obschon ich glaube, dass sie ... Menschen sind, die ein sehr gutes und mustergültiges Leben führen, so erweckten doch der Ton, die Gebärden und Manier derjenigen, mit denen ich gesprochen habe, den Eindruck einer gewissen Aufgeblasenheit. Daneben schwingt in allen ihren Reden die Behauptung mit, sie seien reiner als gewöhnliche Menschen, und niemand befände sich wie sie auf dem geraden Weg in den Himmel. Das ganze mit einer Frömmelei, in der alles sogleich auf Gott bezogen wird ...“[9]

Werke

  • Introduction à la piété dans les Mystères, Paroles et ceremonies de la Messe, Amiens, 1642.
  • Odes sacrées sur le Très-adorable et auguste Mystère du S. Sacrement de l’Autel, Amiens, 1642.
  • Traité de la Solitude chrestienne, ou la vie retirée du siècle, Paris, 1645.
  • Déclaration de Jean de Labadie, cy-devant prestre, predicateur et chanoine d’Amiens, contenant les raisons qui l’ont obligé à quitter la communion de l’Église Romaine pour se ranger à celle de l’Église Réformée, Montauban, 1650.
  • Lettre de Jean de Labadie à ses amis de la Communion Romaine touchant sa Declaration, Montauban, 1651.
  • Les Elevations d’esprit à Dieu, ou Contemplations fort instruisantes sur les plus grands Mysteres de la Foy, Montauban, 1651.
  • Les Entretiens d’esprit durant le jour; ou Reflexions importantes sur la vie humaine, ...sur le Christianisme,...sur le besoin de la Reformation de ses Moeurs, Montauban, 1651.
  • Le Bon Usage de l’Eucharistie, Montauban, 1656.
  • Practique des Oraisons, mentale et vocale... Montauban, 1656.
  • Recueil de quelques Maximes importantes de Doctrine, de Conduite et de Pieté Chrestienne, Montauban, 1657 (puis Genève, 1659).
  • Les Saintes Décades de Quatrains de Pieté Chretienne touchant à la connoissance de Dieu, son honneur, son amour et l’union de l’âme avec lui , Orange, 1658 (Genf, 1659, Amsterdam, 1671).
  • La pratique de l’oraison et meditation Chretienne , Genf, 1660.
  • Le Iûne religieus ou le moyen de le bien faire, Genf, 1665.
  • Jugement charitable et juste sur l’état present des Juifs, Amsterdam 1667.
  • Le Triomphe de l’Eucharistie, ou la vraye doctrine du St. Sacrement, avec les moyens d’y bien participer, Amsterdam, 1667.
  • Le Héraut du Grand Roy Jesus, ou Eclaircissement de la doctrine de Jean de Labadie, pasteur, sur le Règne glorieux de Jésus-Christ et de ses saints en la terre aux derniers temps, Amsterdam, 1667.
  • L’Idée d’un bon pasteur et d’une bonne Eglise, Amsterdam, 1667.
  • Les Divins Herauts de la Penitence au Monde... Amsterdam, 1667.
  • La Reformation de l’Eglise par le Pastorat, Middelburg, 1667.
  • Le Veritable Exorcisme, Amsterdam, 1667.
  • Le Discernement d’une Veritable Eglise suivant l’Écriture Sainte, Amsterdam, 1668.
  • La Puissance eclesiastique bornée à l’Écriture et par Elle... Amsterdam, 1668.
  • Manuel de Pieté, Middelburg 1668.
  • Declaration Chrestienne et sincère de plusieurs Membres de l’Eglise de Dieu et de Jésus-Christ touchant les Justes Raisons et les Motifs qui les obligent à n’avoir point de Communion avec le synode dit Vualon, La Haye, 1669.
  • Points fondamentaux de la vie vraimant Chretiene, Amsterdam 1670.
  • Abrégé du Veritable Christianisme et Téoretique et pratique... Amsterdam, 1670.
  • Le Chant Royal du Grand Roy Jésus, ou les Hymnes et Cantiques de l’Aigneau... Amsterdam, 1670.
  • Receüil de diverses Chansons Spiritüeles, Amsterdam, 1670.
  • L’Empire du S. Esprit sur les Ames... Amsterdam, 1671.
  • Eclaircissement ou Declaration de la Foy et de la pureté des sentimens en la doctrine des Srs. Jean de Labadie, Pierre Yvon, Pierre Dulignon... Amsterdam, 1671.
  • Veritas sui vindex, seu solemnis fidei declaratio... Herfordiae, 1672.
  • Jesus revelé de nouveau... Altona, 1673.
  • Fragmens de quelques poesies et sentimens d’esprit... Amsterdam, 1678.
  • Poésies sacrées de l’amour divin, Amsterdam, 1680.
  • Recueil de Cantiques spirituels, Amsterdam, 1680.
  • Le Chretien regeneré ou nul, Amsterdam, 1685.

Literatur

  • Daniel Vidal: Jean de Labadie (1610–1674). Passion mystique et esprit de Réforme. Grenoble, 2009.
  • Wilhelm Goeters: Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670. Leipzig 1911.
  • Trevor John Saxby: The quest for the new Jerusalem, Jean de Labadie and the Labadists, 1610–1744. Dordrecht-Boston-Lancaster, 1987.
  • Georges Poulet: Les métamorphoses du cercle. Paris, 1961.
  • H. Van Berkum: De Labadie en de Labadisten, eene bladzijde uit de geschiedenis der Nederlandse Hervormde Kerk. Sneek 1851.
  • Aart de Groot: Jean de Labadie. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Band 7. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982, S. 191–204.
  • Fabrizio Frigerio: L’historiographie de Jean de Labadie, Etat de la question. Genève, 1976.
  • Jean Rousset: Un brelan d’oubliés. In: L’esprit créateur. 1961, t. 1, S. 61–100.
  • M. Smits van Waasberghe: Het ontslag van Jean de Labadie uit de Societeit van Jezus. In: Ons geestelijk erf. 1952, S. 23–49.
  • Beate Köster: Labadie, Jean de. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 4, Bautz, Herzberg 1992, ISBN 3-88309-038-7, Sp. 905–907.
  • Michel de Certeau: La Fable mystique: XVIe–XVIIe siècle. Paris, 1987.
  • Cornelis B. Hylkema: Reformateurs. Geschiedkündige studiën over de godsdienstige bewegingen uit de nadagen onzer gouden eeuw. Haarlem, 1900–1902.
  • Paul TschackertLabadie, Jean de. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 17, Duncker & Humblot, Leipzig 1883, S. 462 f.
  • Anne Lagny (Hrsg.): Les piétismes à l’âge classique. Crise, conversion, institutions. Villeneuve-d’Ascq, 2001.
  • Johannes Lindeboom: Stiefkinderen van het christendom. La Haye, 1929.
  • Leszek Kołakowski: Chrétiens sans Eglise, La Conscience religieuse et le lien confessionnel au XVIIe siècle. Paris, 1969.
  • Alain Joblin: Jean de Labadie (1610–1674): un dissident au XVIIe siècle? In: Mélanges de sciences religieuses. 2004, vol. 61, n.2, S. 33–44.
  • Fabrizio Frigerio: La poesia di Jean de Labadie e la mistica quietista. In: Conoscenza religiosa. Band 1, 1978, S. 60–66.
  • Johannes van den Berg: Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden. In: Martin Brecht (Hrsg.): Geschichte des Pietismus Band 1. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, ISBN 3-525-55343-9, S. 57–112.

Weblinks

Commons: Jean de Labadie – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Jacob Cornelis van SleeWolzogen, Ludwig. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 44, Duncker & Humblot, Leipzig 1898, S. 205 f.
  2. Douglas H. Shantz: An Introduction to German Pietism: Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe. JHU Press, 2013, ISBN 978-1-4214-0830-9 (google.de [abgerufen am 3. April 2022]).
  3. Henry Charles Lea, Natalie Zemon Davis: Women on the Margins: Three Seventeenth-century Lives. Harvard University Press, 1995, ISBN 978-0-674-95520-2 (google.de [abgerufen am 3. April 2022]).
  4. a b Albrecht Classen: Mental Health, Spirituality, and Religion in the Middle Ages and Early Modern Age. Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2014, ISBN 978-3-11-036164-3 (google.de [abgerufen am 3. April 2022]).
  5. Daniel Wunderlich Nead: The Pennsylvania-German in the Settlement of Maryland. Genealogical Publishing Com, 1975, ISBN 978-0-8063-0678-0 (google.de [abgerufen am 4. April 2022]).
  6. Jasper Danckaerts: Journal of Jasper Danckaerts, 1679-1680. CosimoClassics, New York 2010, ISBN 978-1-61640-182-5.
  7. Der erfahrene Seemann Danckaerts führte ein Tagebuch, das zum Kolonialleben in New Netherland, am Chesapeake und Delaware 1679–80 zuverlässig Auskunft gibt. https://www.gutenberg.org/files/23258/23258-h/23258-h.htm
  8. Natalie Zemon Davis: Metamorphosen das Leben der Maria Sibylla Merian. Berlin 2003, ISBN 978-3-8031-2484-5, S. 61–65.
  9. Natalie Zemon Davis: Metamorphosen: das Leben der Maria Sibylla Merian. Berlin 2003, ISBN 978-3-8031-2484-5, S. 53 f. (Original in: Peter King: The Life of John Locke, London 1829, S. 162f).

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