Evangelistar

Das Pfingstwunder im Codex Egberti

Evangelistar (von lateinisch evangelistarium) bezeichnet ein liturgisches Buch in der katholischen und den orthodoxen Kirchen, das die Textabschnitte (Perikopen) aus den Evangelien des Neuen Testaments für die Lesung an den Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres enthält.

In der byzantinischen Liturgie heißt das Buch Εὐαγγέλιον (oder Εὐαγγέλιον λειτουργικόν)[1], in der heutigen römisch-katholischen Liturgie lateinisch Evangeliarium, deutsch Evangeliar.[2]

Das liturgische Buch unterscheidet sich von einem Τετραευαγγέλιον und einer Evangelienhandschrift, die den vollständigen Text der vier Evangelien enthalten (z. T. ergänzt durch Listen der in der Liturgie verlesenen Perikopen, genannt (kleine) Synaxarien und (kleine) Menologien).

Geschichte

Die ursprünglich durchgehende gottesdienstliche Lesung des Bibeltextes (lectio continua) wurde seit dem 5. Jahrhundert zunehmend von der Lesung ausgewählter Textabschnitte (Perikopen) abgelöst.

Zur Auffindung der Perikopen in den Evangeliaren wurden zunächst Stellenverzeichnisse in der Ordnung des Kirchenjahres, sogenannte Kapitulare (capitula evangeliorum) den biblischen Texten hinzugefügt. Seit dem späten 6. oder frühen 7. Jahrhundert wurden solche Verzeichnisse als eigenständige Bücher angelegt und dort die zu lesenden biblischen Textabschnitte vollständig ausgeschrieben, die dann als Vorlage der Lesung an die Stelle der Evangeliare traten.

Ein vollständiges Lektionar enthielt das Evangelistar mit der Sammlung der Evangelienperikopen und das Epistolar mit der Sammlung der Perikopen aus den übrigen biblischen Schriften (mit Ausnahme der Psalmenabschnitte). Beide Teile wurden meist als eigenständige Bücher angefertigt, unter denen sich die Evangelistare oft durch besonders prunkvolle Ausstattung auszeichnen.

Bekannte Beispiele sind das Godescalc-Evangelistar (781–783), der Codex Egberti (Reichenau, 980–993) oder der Codex Assemanianus (Nowgorod, 11. Jhd.).

Evangelistare

AbbildungBezeichnungEntstehungszeitEntstehungsortAnmerkungenSignatur
Godescalc-Evangelistarzwischen 781 und 783Aachen (?)geschrieben mit goldener und silberner Tinte auf purpurgefärbtem PergamentParis, Bibliothèque nationale, Ms. nouv. acq. lat. 1203
Fragment eines Evangelistarszweites Drittel des 9. JahrhundertsReimsDüsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, B. 113
Reichenauer Evangelistarum 970Reichenauer MalschuleLeipzig, Stadtbibliothek, Ms. CXC
Poussay-Evangelistarum 970–990ReichenauParis, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 10514
Gero-Codexkurz vor 976ReichenauDarmstadt, Hessische Universitäts- und Landesbibliothek, Hs 1948
Codex Egberti980–993Trier oder ReichenauAuftraggeber Erzbischof Egbert von TrierTrier, Stadtbibliothek, Cod. 24
Seeoner Evangelistar1002/1014Kloster SeeonBamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 95
Uta-CodexAnfang des 11. JahrhundertsRegensburgAuftraggeberin Äbtissin UtaMünchen, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 13601
Codex Assemanianusfrühes 11. JahrhundertMazedonien, Schule von Ohridin kirchenslawischer Sprache in glagolitischer SchriftRom, Vatikanische Apostolische Bibliothek, Cod. Slav. 3
Evangelistar Heinrichs II.um 1007/1012ReichenauAuftraggeber Kaiser Heinrich II. für den Bamberger Dom vermutlich anlässlich dessen EinweihungMünchen, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452
Evangelistar Heinrichs III.zwischen 1039 und 1043Abtei EchternachAuftraggeber König Heinrich III.Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Ms. b 21
Codex Aureus Pultoviensiszweite Hälfte des 11. JahrhundertsPrager Miniatorenschulein Kathedrale von Płock, gestiftet vielleicht von Königin Judith von PolenKrakau, Czartoryski-Museum, Ms. 1207
Codex aureus Gnesnensiszweite Hälfte des 11. JahrhundertsPrager MiniatorenschuleGniezno, Erzbischöfliches Archiv
Codex Vyssegradensiskurz vor 1085Prager Miniatorenschulefür erste böhmische Königskrönung von Vratislav II.Prag, National- und Universitätsbibliothek, Cod. XIV, A 13
Evangelistar von Archangelsk1092bei Nowgorod?in kirchenslawischer SpracheMoskau, Russische Nationalbibliothek
Evangelistar von Wraza13. JahrhundertNowgorod oder Umgebung?Sofia, Nationalbibliothek der Heiligen Kyrill und Method
Evangelistar von Lauryschawaum 1329Kloster Lauryschawa, Großfürstentum Litauenin kirchenslawischer SpracheKraków, Czartoryski-Museum

Weblinks

Wiktionary: Evangelistar – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Jacques Noret: Ménologes, synaxaires, ménées. Essai de clarification d'une termonologie. In: Analecta Bollandiana 86 (1968) 21-24, bes. 23f.
  2. Vgl.: Die Bischofskonferenzen des deutschen Sprachraumes (Hrsg.). Evangeliar. Die Evangelien der Sonntage und Festtage in den Lesejahren A, B und C. Ausgabe A. Herder, Freiburg i. Br. 1985, OCLC 74701217.

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