Das grüne Haus

Das grüne Haus (span. La casa verde) ist der zweite Roman des peruanischen Literatur-Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa aus dem Jahr 1966.[1] Das Werk wurde 1967 mit dem Internationalen Romanpreis „Rómulo Gallegos“[2] ausgezeichnet. Die Handlung auf zwei räumlich weit auseinanderliegenden Schauplätzen in Nordperu[3] erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.[4] Alles Wesentliche in dem Text, so auch das Titel gebende Domizil, hat dualen Charakter. Das grüne Haus ist sowohl ein gut besuchtes, grün gestrichenes Bordell in Pazifiknähe als auch die weite Selva.

Handlung

Die Handlungsorte liegen einmal am Oberlauf des Marañón in der Region Amazonas und dann noch westlich davon in der küstennahen Sandwüste.

Santa Maria de Nieva[5]

Sowohl der chinesischstämmige Räuber Fushía als auch der Kazike Jum, ein Aguaruna, wollen das Geschäft mit dem Kautschuk ohne Don Julio Reátegui machen. Fushía war aus Campo Grande über Manaos zunächst nach Iquitos gekommen. Das Kautschukgeschäft hatte ihn darauf in das entlegene Nieva getrieben. Als Gouverneur von Santa María de Nieva[A 1] hat Reátegui, der gewöhnlich im fernen Iquitos residiert, den längeren Arm. Er lässt den Häuptling Jum durch Militär[A 2] öffentlich foltern und übergibt ein kleines Mädchen in Jums Begleitung den Nonnen der Mission Nieva zur christlichen Erziehung. Die kleine Heidin, ein Aguaruna-Mädchen, wächst unter dem Namen Bonifacia in Nieva auf. Jum zieht sich nach seiner Freilassung in den Urwald zurück. Viel später erscheint er in Nieva und bittet erfolglos um seine konfiszierte Handelsware.

Fushía flüchtet auf eine abgelegene Fluss-Insel nördlich von Nieva.[6] Er hat zwei Helfer – den alten Aquilino aus Moyobamba und den Lotsen Adrián Nieves, einen Deserteur aus dem peruanischen Heer. Der Lotse, ein lediger Christ, hat sich mit Fushías Lebensgefährtin Lalita, einer Weißen aus Iquitos, nach Nieva davongemacht. Lalita war mit dem herzlosen Fushía seit ihrem 15. Lebensjahr zusammen gewesen. Durch Fushías Erkrankung war die Beziehung in die Brüche gegangen. Nieva und Lalita haben dem Urwald ein Stück Land abgerungen, leben zusammen in einer Hütte und haben mehrere kleine Söhne miteinander. Der treue Aquilino rettet den schwerkranken Fushía vor Reáteguis Soldaten auf einer einmonatigen Flucht per Boot nach Iquitos auf die Krankenstation bei San Pablo. Aquilino gibt zur Unterbringung Fushías ganze Barschaft hin.

Inzwischen zum jungen Mädchen herangewachsen, wird Bonifacia Jahre später von den Nonnen verstoßen, weil sie jungen Indiomädchen die Flucht aus dem Missionsgebäude ermöglicht hat. Diese Flucht ist für die Missionarinnen ein Verlust. Die sechs- bis fünfzehnjährigen Mädchen aus den Stämmen der Aguaruna, Huambisa[7] und Shapra werden nicht nur in den Fächern Religion und Moral unterrichtet, sondern auch in Hauswirtschaft. Somit können sie später an christliche Haushalte als Dienstmädchen vermittelt werden. Lalita und Adrián Nieves nehmen Bonifacia auf. Der Lotse freundet sich mit dem Sergeanten Lituma an. Der Sergeant stammt aus dem entfernten Piura und hat sich freiwillig ins Amazonasgebiet gemeldet. In der Hütte des Lotsen lernt er die zwar kleine und breite, aber sehr junge, gut geformte Bonifacia kennen. Lalita verkuppelt Lituma mit der verschüchterten grünäugigen Bonifacia. Der Deserteur Nieves wird inhaftiert.

Lalita besucht nach Jahren in Iquitos ihren erwachsenen Sohn, den sie zusammen mit Fushía hat und trifft dort Aquilino. Von ihm erfährt sie, der Lotse ist freigekommen und sei nach Manaos gegangen.

Piura

Anselmo kommt als Fremder nach Piura und gewinnt durch Freigebigkeit Freunde. Der Ankömmling lässt in den Sanddünen vor den Toren der Stadt ein Bordell errichten und grün anstreichen. Bald ist das Grüne Haus gut besucht. Anselmo stellt nicht nur Huren, sondern auch Musikanten an. Er selbst spielt die Arpa. Das ist die – passend zum Haus grün bemalte – Harfe. Nach seinem Instrument wird der Besitzer des Grünen Hauses auch der Arpista genannt. Der Tugendwächter Pater García ist Anselmos erbitterter Feind. Aber der Bordellbetreiber hat laut Bürgerlichem Gesetzbuch das Recht auf seiner Seite.

Anselmo hat mit seiner Geliebten Antonia ein Kind – die Chunga. Kurz vor der Geburt war Toñita, wie Antonia genannt wurde, verstorben. Wie durch ein Wunder hatte das Neugeborene überlebt. Anselmo hatte die Geliebte zu ihren Lebzeiten in einem Turm des Grünen Hauses verborgen gehalten. Böse Zungen behaupten, Anselmo habe die scheue Antonia geraubt. Er habe sie der Pflegemutter Juana Baura, einer Wäscherin, weggenommen. Antonias vorletzte Pflegeeltern, die Quirogas, waren von Banditen umgebracht worden. Bei dem Überfall waren Antonia die Augen ausgestochen und die Zunge herausgerissen worden.

Gegner käuflicher Liebe, allen voran Pater García, brennen das Grüne Haus nieder. Jahre vergehen. Anselmo bringt die Kraft zum Neubeginn nicht auf. Die Chunga entwickelt sich mit der Zeit zu einer zwar unförmigen, aber tüchtigen Geschäftsfrau und baut schließlich das Grüne Haus an anderer Stelle – diesmal in Piura am Fluss[8] hinterm Schlachthof – wieder auf. Juana Baura ist längst verstorben. Ihren inzwischen leicht verwirrten und erblindenden Vater stellt die resolute Chunga als Arpista ein.

Als Lituma mit Bonifacia aus dem Urwald nach Piura zurückkehrt, sucht er bald das Grüne Haus auf, um mit alten Freunden zu zechen. Die Freunde nennen sich die Unbezwingbaren und sind Tagediebe übelster Sorte. Lituma, nun in denkbar schlechter Gesellschaft, kommt schließlich als Gewinner im russischen Roulette über den Piruaner Seminario[A 3] ins Gefängnis nach Lima. Josefino Rojas, einer der Unbezwingbaren, nimmt die Stelle des Inhaftierten bei Bonifacia ein. Sie ist von ihrem Ehemann schwanger und erwägt eine Abtreibung. Josefino schickt sie nach dem Abort auf den Strich. Als Lituma herauskommt, schlägt er den „Stellvertreter“ beinahe tot. Bonifacia, die bei der Bestrafung zugegen ist, bekommt auch ihre Fußtritte ab. Schließlich zählt das „Miststück“ als Hure Selvática[A 4] zu den „Insassinnen“ des Grünen Hauses. Wenig später auf der Tanzdiele hat Lituma seine Enttäuschung gezügelt und übernimmt Josefinos Zuhälterrolle: „Tun Sie Ihre Arbeit, Nutte“,[9] herrscht er seine widerborstige Ehefrau im Beisein des nächsten Freiers an. Auf Litumas Geheiß darf sich die Selvática in der Zivilisation nicht mehr wie eine Wilde aufführen. Er erzieht sie mit Ohrfeigen.

Anselmo, als junger Mann in Piura eingezogen, nun beinahe erblindet, stirbt als Greis im Grünen Haus der Chunga. Etwa achtzig Jahre ist er alt geworden. In einer anrührend-komischen Szene hatte Pater García dem Widerpart seine Sünden verziehen. Bei der Gelegenheit hatte die Selvática erfolgreich um Vergebung für ihre Hurerei gebeten. Zu Lebzeiten hatte sich Anselmo zuletzt noch als Landsmann der Selvática ausgegeben. Er sei – entgegen landläufiger Meinung in Piura – ein Selvático. Darum habe er Harfe und Haus grün anmalen lassen.

Selbstzeugnis

1971 hat Vargas Llosa in dem Vortrag „Historia secreta de una novela“[10] die Zuhörer durch sein grünes Haus geführt. Unzählige Steinchen ergäben schließlich ein Mosaik. Der Autor hält dazu Bauprogramme parat.

Form

Der Text ist in vier Bücher und einen Epilog geteilt. Manchmal wird das Tempus gewechselt.[11]

Das Buch ist keine Lektüre für einen am Feierabend abgespannten Leser. Der Vortrag verblüfft stellenweise. Zum Beispiel werden innerhalb eines Kapitels die beiden Handlungsorte gewechselt; mitunter ohne Leerzeile.[12] Eigentlich ist dem Bild, geprägt 1978 von M. Moody, beizustimmen: In die chaotischen Erzähltechniken eintauchen heißt, sich in einen Whirlpool begeben.[13] Als zum Beispiel Josefino von Lituma halb totgeschlagen wird, tappt der Leser im Dunkeln. Der Grund wird später nachgereicht. Nicht nur, dass überhaupt nicht entlang der Zeitskala erzählt wird. Mehr noch, die Protagonisten wechseln – im Fall des Sergeanten Lituma, unter zwei Namen – zwischen Piura und der Selva. Mancher Leser, der nicht kapitulieren möchte, kann unversehens in die Rolle eines Kriminalisten geraten, der als pedantischer Ordner des Romangeschehens seine liebe Not hat.

Für den mit der Zeit kriminalistisch hellwach gewordenen Leser offenbart der anachronistische Part solcher Erzähltechnik allerdings einen bemerkenswerten Vorzug. Da zunächst der Anfang und darauf das Ende des Schicksals eines Protagonisten mitgeteilt wird, folgt der hochkonzentrierte Leser dem Text, gespannt auf das jeweils fehlende Mittelstück.

Das oben im Abschnitt „Handlung“ Ausgesagte ist mit Vorsicht zu genießen. Denn manches weiß der Leser aus unsicherer Quelle. Zum Beispiel, wenn Fushía erzählt, dass Reátegui durch Schmuggel zu seinem Reichtum gekommen ist, dann könnte das auch üble Nachrede sein.[14] Der Leser darf das Stilelement Ironie verbunden mit Heuchelei nicht übersehen. Der Erzähler versetzt sich zum Beispiel in die Mutter Oberin der Mission Nieva, wenn er schreibt, die Mission sei keine Agentur für Hausangestellte.[15] Das Gegenteil erscheint als zutreffend. Die Mündel der Oberin seien bereits im Alter von elf Jahren geschlechtsreif.[16] Wie gesagt – fast alles Wesentliche wird von zwei Seiten betrachtet. Wenn der Leser zum Beispiel die Beschreibung der Entjungferung Antonias durch Anselmo zur Kenntnis nimmt, dann könnte er sich sagen, das muss Liebe sein. Die Leute in Piura sind allerdings über dieses Verhältnis geteilter Meinung.

Rezeption

  • Scheerer[17] bietet eine fundierte Einführung in die Forschungsarbeiten zu den im Roman eingesetzten Erzähltechniken wie den Fragmenten, den kommunizierenden Röhren, den chinesischen Schachteln, den teleskopischen Dialogen, dem pluridimensionalen Vortrag sowie der Szenencodierung – klingende Namen für Textsequenzen, die nur wenige Leser länger aushielten.[18] Die allgegenwärtige Mehrdeutigkeit sei Absicht.[19] Die erwähnte Fragmenttechnik sei Ausweg aus der Materialfülle.[20] Über das Erzähltechnische hinaus bietet Scheerer auch manchen gedanklichen Ansatz zum gesellschaftlichen und philosophischen Hintergrund des Textes. Wird allerdings Scheerer beim Wort genommen, so findet sich einiges, das in dem extrem diffusen Text so nicht geschrieben steht. Dazu zwei Beispiele. Aquilino brächte Fushía in eine Leprastation.[21] Das Wort Lepra wird nicht genannt. Fushías Erkrankung lässt sich aus den Begleitumständen vermuten.[22] Jum sei Bonifacias Stiefvater.[23] Weder Bonifacia noch der Leser erhalten darüber Sicherheit.[24] Solche und andere Beispiele laufen auf Vargas Llosas hintersinniges Richtmaß der verweigerten Information hinaus.[25]
  • Vargas Llosa kennt sich in Piura aus. Sein Großvater, ein Verwandter des Präsidenten Rivero, war dort bis 1948 Präfekt.[26]
  • Lentzen geht auf soziale Strukturen im peruanischen Urwald ein. Nur der Kautschukhändler Reátegui, als Gouverneur von Nieva ohnedies begütert, macht das Geschäft.[27] Fushía, der geschäftlich mithalten möchte, scheitert, weil ihn der Gouverneur als Kriminellen abstempelt.[28] Weil Reátegui das Militär hinter sich hat[29], kann er auch einen zweiten Konkurrenten, den Häuptling Jum, mit nackter Gewalt ausschalten.[30] Gewalt dominiert im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Lituma überwältigt Bonifacia in Nieva.[31] Gewaltsam enden auch Auseinandersetzungen zwischen Männern. Lentzen nennt das russische Roulette zwischen Lituma und Seminario.[32]

Literatur

Verwendete Ausgabe

  • Das grüne Haus. Roman. Aus dem Spanischen von Wolfgang A. Luchting. Mit Anmerkungen[33] des Übersetzers und einer Kartenskizze Nordperus mit vermerkten Locations[34]. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992 (1. Taschenbuch-Aufl. 2011 (st 4330)), ISBN 978-3-518-46330-7[35]

Sekundärliteratur

  • Christian Meister: Die Erzähltechniken Mario Vargas Llosas am Beispiel “La casa verde” und “Pantaleón y las visitadoras”, Magisterarbeit. Grin Verlag, München und Ravensburg 2003, ISBN 978-3-638-70075-7
  • Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-38289-6
  • Norbert Lentzen: Literatur und Gesellschaft: Studien zum Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in den Romanen Mario Vargas Llosas. Romanistischer Verlag, Bonn 1994 (Diss. RWTH Aachen 1994), ISBN 3-86143-053-3

Anmerkungen

  1. Bei der Ortschaft Santa María de Nieva mündet der Fluss Nieva in den Alto Marañón (verwendete Ausgabe, S. 30, 10. Z.v.u.).
  2. Es ist an anderer Stelle (siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 169, 4. Z.v.o.) auch von der Guardia Civil die Rede.
  3. Das Duellopfer könnte aus der Familie Miguel Grau Seminarios stammen.
  4. „Selvática“ heißt „die Frau aus der Selva“.

Einzelnachweise

  1. Verwendete Ausgabe, S. 4, 9. Z.v.u.
  2. eng. Rómulo Gallegos Prize
  3. Luftlinie Piura Iquitos (ist länger als Piura – Nieva (Nieva befindet sich nicht auf den betreffenden Maps))
  4. Scheerer, S. 27 Mitte
  5. span. Santa María de Nieva (Perú)
  6. siehe auch Kartenskizze in der verwendeten Ausgabe, S. 677 unter dem Namen „Fushías Insel“
  7. eng. Huambisa
  8. span. Río Piura
  9. Verwendete Ausgabe, S. 297, 1. Z.v.u.
  10. Scheerer, S. 48–62 (span. Historia secreta de una novela)
  11. siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 64,7. Z.v.o.
  12. siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 374, 7. Z.v.u.
  13. zitiert bei Scheerer, S. 22, 14. Z.v.o.
  14. Verwendete Ausgabe, S. 70
  15. Verwendete Ausgabe, S. 175, 10. Z.v.u. und S. 182, 14. Z.v.o.
  16. Verwendete Ausgabe, S. 187, 10. Z.v.u.
  17. Scheerer, S. 21–36 und S. 48–62
  18. Scheerer, S.
  19. Scheerer, S. 22 unten und S. 28, 4. Z.v.u.
  20. Scheerer, S. 48 unten
  21. Scheerer, S. 23., 6. Z.v.u.
  22. Verwendete Ausgabe, S. 535 Mitte, S. 603 unten
  23. Scheerer, S. 23., 22. Z.v.o.
  24. Verwendete Ausgabe, S. 133, 8. Z.v.o. und S. 450, 1. Z.v.u.
  25. Scheerer, S. 28., 5. Z.v.o.
  26. Scheerer, S. 172., 5. Z.v.o.
  27. Lentzen, S. 27 oben
  28. Lentzen, S. 29 unten
  29. Lentzen, S. 31 unten
  30. Lentzen, S. 37 Mitte
  31. Lentzen, S. 38 Mitte
  32. Lentzen, S. 44 Mitte
  33. Verwendete Ausgabe, S. 672–676
  34. Verwendete Ausgabe, S. 677
  35. Die verwendete Ausgabe ist nicht frei von Druckfehlern (siehe zum Beispiel S. 349, 1. Z.v.o. und S. 455, 17. Z.v.o.).