Blinder Fleck (Psychologie)

Blinder Fleck bezeichnet umgangssprachlich die Teile des Selbst oder Ichs, die von einer Person nicht wahrgenommen werden. Diese metaphorischen Bedeutung leitet sich von dem visuellen Phänomen des Blinden Flecks im Auge ab und wird auch auf gesellschaftliche Phänomene oder Theorien angewandt. Der Blinde Fleck ist dabei nicht lediglich etwas, was nicht gesehen wird, sondern ein Aspekt der aufgrund des Selbstbildes bzw. des gesellschaftlichen Konstruktes ausgeblendet wird.[1]

Auch wenn es sich in der psychologischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Fachliteratur nicht um einen klar definierten Fachbegriff handelt, taucht er in diesen Kontexten häufiger auf, wenn auf eine systemisch bedingte Leerstelle in der gesellschaftlichen oder fachspezifischen Wahrnehmung hingewiesen werden soll.

Psychologie

In der Psychologie des Individuums wird der Begriff in dem Sinne verwendet, dass blinde Flecken regulär zum Funktionieren der menschlichen Psyche gehören, wie der Blinde Fleck zur Physiologie des Auges.

Blinder Fleck im Johari-Fenster

Die verschiedenen psychologischen Theorien verwenden unterschiedliche Erklärungen zum Zustandekommen blinder Flecken in der Selbstwahrnehmung wie die Abwehrmechanismen in der Psychoanalyse, das Eisbergmodell oder die Mechanismen zur Vermeidung von Kognitiver Dissonanz in der Sozialpsychologie nach Leon Festinger, ohne dass der Begriff des Blinden Fleckes eine systematische Verwendung als Fachterminus findet.[2]

Explizit als Fachbegriff taucht der Begriff lediglich bei den Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham auf und wird in dem sogenannten Johari-Fenster als der Teil der psychologischen Wahrnehmung bezeichnet, der vom Blickwinkel einer Person aus betrachtet, anderen bekannt ist, aber nicht der Person selbst.[3]

Aus gestaltpsychologischer Perspektive wird hinzugefügt, dass es, parallel zur physiologischen Bedeutung des Begriffs, auch im psychologischen Kontext zu Ergänzungserscheinungen kommt, durch die der Blinde Fleck in der Selbstwahrnehmung nicht als Lücke oder Leerstelle wahrgenommen wird, sondern es aufgrund der Gestaltgesetze zu einer Vervollständigung des Bildes kommt.[4]

Für die psychoanalytische Behandlung benutzte Sigmund Freud den Begriff zur Beschreibung der Einschränkung der analytische Wahrnehmung durch eine nicht ausreichende Lehrtherapie:

„jede ungelöste Verdrängung beim Arzt entspricht nach einem treffenden Worte von W. Stekel einem ‚blinden Fleck‘ in seiner analytischen Wahrnehmung.“

Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, in: Gesammelte Werke, Band VIII, S. 382.

In systemischen Beratungsprozessen können Fallkonferenzen dazu beitragen, dass blinde Flecken einzelner Berater auf den Fall sichtbar gemacht werden können.[5] Zu blinden Flecken kann es in therapeutischen Beziehungen auch durch die gesellschaftliche Umgebung kommen, etwa in Bezug auf die Geschlechteraspekte[6] oder außergewöhnliche Erfahrungen, die sich nicht in das wissenschaftlich Überprüfbare einordnen lassen.[7]

Auch einzelne Themen, die bisher nicht genügend berücksichtigt wurden, werden in der Literatur als blinde Flecken herausgestellt.[8]

Soziologie und Politikwissenschaft

Im gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Kontexten werden immer wieder Phänomene als blinde Flecken bezeichnet, wenn sie jeweils bis dato nicht ausreichend in den Diskurs aufgenommen wurden: So z. B. die Formen ritueller oder organisierter Gewalt gegen Kinder,[9] die Genderfrage in der Traumaforschung,[10] bestimmte Arbeitsbedingungen[11] oder organisatorische Wandlungsprozesse.[12]

Der Kölner Philosoph Günter Schulte zeigte, dass auch die Umstellungen Niklas Luhmanns, die sich auf blinde Flecken in der Erkenntnistheorie beziehen, in Bezug auf die von ihm kritisierten philosophischen und psychologischen Systeme ihrerseits wieder blinden Flecke produzierten.[13]

Theodor W. Adorno bezeichnete geschichtsphilosophisch das (jeweils) Neue als blinden Fleck, „leer wie das vollkommene Dies da“ und führte aus, dass Geschichte sich nicht nach Art eines Staffetenlaufes organisiere, sondern auf das Entstehen und Aufdecken der jeweiligen blinden Flecke angewiesen sei.[14]

Im historischen Zusammenhang wurden unter dem Stichwort der blinden Flecken verborgene Hintergründe und Zusammenhänge bestimmter Strömungen und Epochen herausgearbeitet.[15] So zeigte Wolfgang Kraushaar einen Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF auf[16] und beschrieb in Bezug auf die 68er-Bewegung die „Romantik“, die Rolle der Unterhaltungsmusik, die Metamorphosen der Antisemitismus-Kritik und der Neuentdeckung Walter Benjamins als blinde Flecken der Rezeption der 68er-Bewegung.[17]

Einzelnachweise

  1. Jan Philipp Reemtsma: Der blinde Fleck: über Gewalt in der Moderne. In: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Hamburg Bd. 29, Ausg. 2, April/Mai 2020, S. 5–22.
  2. Leon Festinger: Theorie der Kognitiven Dissonanz. Hogrefe Verlag, Göttingen 2020. ISBN 978-3-4568-6032-9
  3. Maria Majce-Egger: Johari-Window. In: Gerhard Stumm, Alfred Pritz: Wörterbuch der Psychotherapie. S. 337–337
  4. Stichwort Ergänzungserscheinungen in Dorsch: Lexikon der Psychologie. Hogrefe Verlag, Göttingen. Abgerufen am 13. November 2021.
  5. Stefan Heinitz und Britta Claassen-Hornig: Um die >blinden Flecken< sichtbar werden zu lassen. Sozialmagazin 2015 (E-Book-Paket), Beltz-Juventa Verlag, 2015.
  6. Brigitte Schigl: Beziehungsweise blinder Fleck? Report Psychologie. 2020 45(11–12): 18–24.
  7. Nikola Boris Kohls: Außergewöhnliche Erfahrungen – Blinder Fleck der Psychologie? Eine Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Erfahrungen und ihrem Zusammenhang mit geistiger Gesundheit. Lit-Verlag, Münster 2004. ISBN 978-3-825-88100-9
  8. Arist von Schlippe, Sabine Klein: Familienunternehmen – blinder Fleck der Familientherapie? In: Familiendynamik. 2010 35(1), S. 10–21.
  9. Marta M. Ustupska, Malte Stopsack, Ariane Preibsch & Sven Barnow: Rituelle Gewalt – ein blinder Fleck? Bewusstsein über Gewalt an Kindern und Jugendlichen bei Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen. In: Trauma. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen. 2016 14(2), S. 84–96.
  10. Sabine Scheffler, Katharina Gerlich: Trauma und Gender – noch immer ein blinder Fleck? Kritische Betrachtungen zur Traumaforschung und -behandlung aus der Geschlechterperspektive. In: Trauma & Gewalt. 2014 8(3), S. 192–200.
  11. Marianne Resch, Eva Bamberg, Gisela Mohr: Frauentypische Arbeitsbedingungen: Ein blinder Fleck in der Arbeits- und Organisationspsychologie. In: Die Arbeits- und Organisationspsychologie. Gegenstand und Aufgabenfelder, Lehre und Forschung, Fort- und Weiterbildung. Hogrefe, Göttingen 1994, S. 113–118.
  12. Fritz Böhle: Veränderung durch 'Integration von unten'. Den 'blinden Fleck' des organisatorischen Wandels verstehen. In: Personalführung. 2008 41(9) S. 46–51.
  13. Günter Schulte: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie. Lit Verlag, Münster 2013, ISBN 978-3-6431-1808-0.
  14. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. (Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1970). Gesammelte Schriften Band 7:, S. 35.
  15. Gudula Walterskirchen: Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927-1938. Kremayr & Scheriau, Wien 2017. ISBN 978-3-2180-1063-4.
  16. Wolfgang Kraushaar. Die blinden Flecken der RAF. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018. ISBN 978-3-6089-8140-7.
  17. Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018. ISBN 978-3-6089-8141-4.

Siehe auch

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