Binnenkonsens

Als Binnenkonsens wird ein Konsens bezeichnet, der nur innerhalb eines begrenzten Personenkreises besteht.

Krankenkassen

Besondere Bedeutung erlangte der Begriff in Deutschland etwa Mitte der 1990er Jahre in der kritischen Auseinandersetzung über die Reform des Krankenkassenrechts. Er bezieht sich insbesondere auf eine Formulierung im § 135 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) hinsichtlich der Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Solidargemeinschaft:

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss … Empfehlungen abgegeben hat über
1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden – nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung … (§ 135 Abs. 1 SGB V)

Im Zusammenhang mit dem Erlass der GKV-Neuordnungsgesetze hatte der Deutsche Ärztetag 1997 den Bundestag aufgefordert, in dieser Formulierung die Worte „in der jeweiligen Therapierichtung“ ersatzlos zu streichen.[1] Man befürchtete, dass das Prinzip der Binnenanerkennung[2] maßlos auf alle neuen unkonventionellen Therapieverfahren ausgedehnt werden könne. Gleichzeitig forderte man, die Privilegierung der besonderen Therapierichtungen in den Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§ 92 Absatz 3a SGB V) aufzuheben.[1]

Ein Binnenkonsens besteht ebenfalls hinsichtlich der Erstattung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie. Der Arzt kann sie bei schwerwiegenden Erkrankungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnen, „sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für diese Indikationsgebiete nach dem Erkenntnisstand als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt ist.“[3] Dies ist in von Sozialgerichten bestätigt worden.[4]

Arzneimittelrecht

Arzneimittelrechtlich besteht in Deutschland seit 1976 ein Binnenkonsens bezüglich der zulassungspflichtigen Arzneimittel der Therapierichtungen Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie. Für sie sieht das deutsche Arzneimittelgesetz vor, dass in der Entscheidung über die Erteilung bzw. Verlängerung einer Vermarktungserlaubnis die „medizinischen Erfahrungen“ bzw. „die Besonderheiten dieser Therapierichtungen“ zu berücksichtigen sind (§ 25 Abs. 6 und § 105 Abs. 4f AMG). Für diese sogenannten „besonderen Therapierichtungen“ ist ein erleichtertes Zulassungsverfahren statt eines klassischen Zulassungsverfahrens für Arzneimittel vorgesehen.[5]

Vorausgegangen war nach dem Contergan-Skandal die Forderung der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1965, die Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit neuer sowie bereits eingeführter Arzneimittel in Zukunft mit vergleichbaren wissenschaftlichen Methoden zu prüfen. Um dem Rechnung zu tragen, hatte die SPD-Gesundheitsministerin Katharina Focke 1973 einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.[6] Dieser unterschied aber noch nicht zwischen der Zulassung medizinischer und homöopathischer Arzneimittel. Dies hätte für letztere einen Wirksamkeitsnachweis über den Placeboeffekt hinaus verlangt, wofür es keine überzeugenden Studien gegeben hatte. Durch massive Lobbyarbeit des Anthroposophen Gerhard Kienle und Fürsprache durch den damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU Karl Carstens wurde das ursprüngliche allgemeinverbindliche naturwissenschaftlichen Prinzip schließlich durch einen „Methodenpluralismus“ ersetzt, wodurch die Zulassung der besonderen Therapierichtungen nicht mehr Wirksamkeitsnachweise nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden bedarf.[6][7]

Weitere Verwendung

Der Begriff Binnenkonsens ist aber auch in anderen Bereichen gebräuchlich. In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte spielt er im Bereich der ethnologischen Konsensusanalyse eine Rolle (in englischen Texten meist internal consensus).[8]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Beschlussprotokoll des 100. Deutschen Ärztetages vom 27.-30. Mai 1997 in Eisenach (PDF; 304 kB), Seite 4
  2. Die Formulierung „in der jeweiligen Therapierichtung“ wird in der politischen Auseinandersetzung mit dem Begriff „Binnenkonsens“ (nämlich: der jeweiligen Therapierichtung) wiedergegeben. Synonym wird hierbei auch der Begriff der Binnenanerkennung benutzt. Beispiele für die Verwendung beider Begriffe in der politischen Auseinandersetzung um die besonderen Therapieformen: von der einen Seite Irmgard Oepens Beitrag „Unkonventionelle Verfahren und Positivliste – Aus Sicht der wissenschaftlichen Medizin: Mängel der Rechtsprechung“, Archivlink (Memento vom 29. September 2007 im Internet Archive), S. 27–34; von der anderen Seite ein Abstract eines Beitrags von Rüdiger Zuck, „Der verfassungsrechtliche Rahmen von Evaluation und Pluralismus“ https://doi.org/10.1007/s00350-006-1747-y
  3. Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung („Arzneimittel-Richtlinien/AMR“) (PDF; 199 kB)
  4. S 7 KR 283/06 (SG Speyer), S 8 KR 321/04 (SG Düsseldorf) (Memento vom 10. Februar 2009 im Internet Archive), S 18 KR 534/05 (SG Dresden)
  5. Jutta Hübner et al.: Komplementärmedizin in der Uroonkologie. In: Der Urologe. Band 60, Nr. 7, 1. Juli 2021, S. 954, doi:10.1007/s00120-021-01584-8.
  6. a b Sebastian Balzter: Die ganz große Globuli-Koalition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24. September 2019, abgerufen am 26. Dezember 2021.
  7. Henrik Müller: Viele Hausarztpraxen werben mit alternativmedizinischen Angeboten. In: MedWatch. 16. Februar 2022, abgerufen am 17. Februar 2022.
  8. Vgl. etwa A. K. Romney/S. C. Weller/ W. H. Batchelder: Culture as consensus: A theory of culture and informant accuracy. American Anthropologist, 1986, vol. 88, pp. 313–338; für die Verwendung des deutschen Begriffs siehe Micha Strack: Sozialperspektivität, Göttingen 2004 (PDF; 3,7 MB), S. 268 und 308.