Alltagspsychologie

Unter Alltagspsychologie oder Populärpsychologie (engl. folk psychology, nicht zu verwechseln mit Völkerpsychologie) versteht man – in Abgrenzung zur Psychologie als Wissenschaft – die Gesamtheit von Begriffen der Umgangssprache, allgemein verbreiteten Vorstellungen und gewöhnlichen Erklärungsweisen, die traditionell und gewohnheitsmäßig verwendet werden, um Handeln, Verhalten und sonstige Reaktionen von sich und anderen im Zusammenhang mit „inneren Vorgängen“ geistiger und emotionaler Art sprachlich darzustellen, in der eigenen Vorstellung nachzuvollziehen sowie zu erklären oder vorherzusagen. Intuitive, Laien-, Küchen-[1] oder Common-Sense-Psychologie sind ähnliche Begriffe.[2]

Grundlage

Alltagspsychologie im umschriebenen Sinn als die Psychologie von Jedermann könnte sich in unserem Kulturraum nach sprachhistorischen Beobachtungen erst vor gut dreitausend Jahren allmählich herauszubilden begonnen haben.[3] In ihr wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass „alle“ Menschen und teilweise auch Tiere über ein „Inneres“ mit wenigstens gleichartigen, wenn nicht identischen „inneren Vorgängen“ oder „Regungen“[4] verfügen, das in der Umgangssprache als „Innenleben“ bezeichnet wird. Dazu gehören auch zahlreiche lebenspraktisch entstandene Vorstellungen und Überzeugungen darüber, welche „inneren Mechanismen“ beim Reagieren von Menschen eine Rolle spielen; sie weisen allerdings ihrerseits oft Voraussetzungen auf, die in ihrer unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Art kaum bekannt sind oder reflektiert werden, so dass sie oft unterschwelliger Anlass von Miss- und Unverständnis mit lange unentdeckten und deswegen teilweise weitreichenden Folgen sind.

Als im Alltag erworbenes und hier unablässig praktisch erprobtes Orientierungswissen, das auf dem subjektiven Selbst- oder Eigenerleben beruht und bei der täglichen Lebensbewältigung vor allem praktischen Zwecken dient, vermag Alltagspsychologie deutlich darüber hinausreichende Aussagen nicht zu machen. So kann sie beispielsweise die Grundlagen und Unterschiede individueller Lernfähigkeit nicht erklären, ebenso wenig die Natur und individuelle Ausgestaltung unserer Vorstellungsfähigkeit[5] und unseres darauf beruhenden Erinnerungsvermögens oder etwa das Zustandekommen und die Funktion des Träumens oder die assoziativen Zusammenhänge in Träumen. Auf ihrer Grundlage können jedoch bei genauer Betrachtung von Einzelheiten durchaus mehr psychische Zusammenhänge geklärt werden, als dies für den gewöhnlichen Lebensvollzug nötig und deswegen allgemein bekannt ist, wie in Psychotherapien deutlich wird, in denen grundsätzlich normale Umgangssprache gesprochen und für die Verständigung in diesem Rahmen auch unablässig von alltagspsychologischen Konzepten Gebrauch gemacht wird.[6]

In der Philosophie des Geistes wird darüber diskutiert, inwieweit die Konzepte der Alltagspsychologie mit den wissenschaftlichen Konzeptualisierungen in der akademischen Psychologie und ihren angrenzenden biologischen und sozialen Wissenschaftsbereichen verträglich, zu ergänzen oder zu korrigieren sind.

Abweichend vom bisher Dargestellten und geradezu im Gegensatz dazu hat Georges Politzer Entwurf und Entwicklung einer alltagsorientierten und alltagstauglichen psychologischen Wissenschaft als „Alltagspsychologie“ verstanden.

Umgekehrt gibt es in Anlehnung an den Begriff des Küchenlateins den Ausdruck von einer Küchenpsychologie, mit dem eine ebenso platte wie naive und unreflektierte Form der Verwendung alltagspsychologischer Kenntnisse bezeichnet wird.

Populärpsychologie

Ähnlich der „Plausibilität zentraler Glaubenssätze vieler Weltreligionen“ hängt „die Populärpsychologie – die allgemeine Art, über Menschen zu sprechen – […] von einer adäquaten Theorie mentaler Kausalität ab“.[7]

Vielfach ist gemäß Kurt Derungs „[e]igenes, kritisches Denken […] nicht das Ziel der Populärpsychologie. Vielmehr werden die Frauen und Männer einem Lehrgebäude angepasst, um gedanklich und interpretationsmässig nicht von der ideologischen Linie abzuweichen. […] Die Populärpsychologie kennt […] auch einen Monotheismus, einen Religionsstifter und einen missionarischen Eifer.“[8]

Mario Bunge und Rubén Ardila schreiben über die Populärpsychologie: „Während Physiker mit einer ‚Populärphysik‘ absolut nichts anfangen können, ist eine ,Populärpsychologie' häufig ein durchaus vernünftiger Ausgangspunkt psychologischer Forschung. Tatsächlich bemüht sich diese, das Gebiet, das wir als Populärpsychologie bezeichnet haben, zu erweitern, zu vertiefen und von Irrtümern zu befreien, ein Streben, das auch mancherlei Einsichten einschließt, die sich nicht zuletzt aus den großen Werken der Kunst gewinnen lassen. Aus diesem Grund wird Populärpsychologie nicht verschwinden, vielmehr wird sie wahrscheinlich Schritt für Schritt verbessert und durch mancherlei Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie bereichert werden.“[9]

Beispiele

Siehe auch

Literatur

  • Uwe Laucken: Naive Verhaltenstheorie. Klett, Stuttgart 1974, ISBN 3-12-925260-6.
  • Paul Churchland: Folk Psychology. In: Samuel Guttenplan (Hrsg.): A Companion to the Philosophy of Mind. Blackwell, Oxford 1994, S. 308–316. (Übersichtsartikel, der die Position des eliminativen Materialismus hervorhebt)
  • Volker Kitz, Manuel Tusch: Psycho? Logisch! Nützliche Erkenntnisse der Alltagspsychologie. Heyne Verlag, München 2011, ISBN 978-3-453-60179-6 (dnb.de [abgerufen am 29. März 2013] Originalausgabe).
  • Shaun Nichols: Folk Psychology. In: Encyclopedia of Cognitive Science. Nature Publishing Group, London 2002, S. 134–140 (Übersichtsartikel – Online-Version hier (Memento vom 11. Oktober 2002 im Internet Archive).)
  • Stephen Stich, Ian Ravenscroft: What Is Folk Psychology? In: Cognition. 1994: 50, 1–3, S. 447–468.
  • Barbara von Eckardt: Folk Psychology. In: Samuel Guttenplan (Hrsg.): A Companion to the Philosophy of Mind. Blackwell, Oxford 1994, S. 300–307. (Übersichtsartikel)
  • Egon Daldorf: Seele, Geist und Bewußtsein. Eine interdisziplinäre Untersuchung zum Leib-Seele-Verhältnis aus alltagspsychologischer und naturwissenschaftlicher Perspektive. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.(Enthält u. a. eine ausführliche Darstellung der Begriffsgenese und weiterführende Literaturangaben.)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. ReportPsychologie: Interview mit Dr. Hans-Peter Nolting über Küchenpsychologie vom 24. Juli 2014 aufgerufen am 2. September 2017
  2. Egon Daldorf: Seele, Geist und Bewusstsein: eine interdisziplinäre Untersuchung. 2005, S. 122, ISBN 3-8260-3072-9.
  3. So die These von Julian Jaynes in Der Ursprung des Bewußtseins. Rowohlt, Reinbek 1993, ISBN 3-499-19529-1: im 5. Kapitel seines „Zweiten Buches“ m. d. T. Das Beweismaterial der Geschichte zeigt er exemplarisch an den griechischen Begriffen Thymos – S. 318 f., Phrenes – S. 320 ff., Kradie – S. 323 f., Etor – S. 324 ff., Noos – S. 327 ff. und Psyche – S. 329 ff., wie deren Verwendung zur Bezeichnung augenfälliger, von außen sichtbarer körperlicher Gegebenheiten in einer zweiten Phase zur Bezeichnung körperinnerer Entsprechungen wurde, bevor sie sich in zwei weiteren Schritten allmählich zu psychologisch wichtigen Ausdrücken zur Bezeichnung von Elementen einer inneren Vorstellungswelt, dem Bewusstsein nach Jaynes wandelten. (Zur Sprachentwicklung insg. siehe auch ds. The Evolution of Language in the Late Pleistocene. Annals of the New York Academy of Sciences, 1976, S. 280, 312–325. und Die Evolution der Sprache im gen. Buch S. 163–174).
  4. So der terminologische Vorschlag hierfür von Dirk Hartmann: Philosophische Grundlagen der Psychologie. (Memento vom 26. November 2015 im Internet Archive) (PDF; 17,1 MB) WBG, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13887-2, S. 46 ff.
  5. S. jetzt Colin McGinn: Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstellungskraft. Primus, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-293-9.
  6. S. Ingo-Wolf Kittel: Mundwerk – Psychotherapie vom Standpunkt des Praktikers. In: Martin Wollschläger (Hrsg.): Hirn – Herz – Seele – Schmerz. Psychotherapie zwischen Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften. dgvt-Verlag, Tübingen 2008, ISBN 978-3-87159-073-3, S. 25–40.
  7. Ted Peters, Gaymon L. Bennett, Kang Phee Seng: Brücken Bauen: Naturwissenschaft und Religion. 2006, S. 174. ISBN 3-525-56975-0.
  8. Kurt Derungs: Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm: Handschriften. 1999, S. 300.
  9. Mario Bunge, Rubén Ardila: Philosophie der Psychologie. Kapitel 3.3: Nichtwissenschaftliche Zugänge zur Psychologie. 1990, S. 72. ISBN 3-16-345550-6.