Akutes Koronarsyndrom

Klassifikation nach ICD-10
I20.0Instabile Angina pectoris
I21Akuter Myokardinfarkt
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Mit dem Begriff des akuten Koronarsyndroms (englisch acute coronary syndrome, ACS) wird in der Medizin ein Spektrum von Herz-Kreislauf-Erkrankungen umschrieben, die durch den Verschluss oder die hochgradige Verengung eines Herzkranzgefäßes verursacht werden. Es reicht von der instabilen Angina pectoris (UA) bis zu den beiden Hauptformen des Herzinfarkts, dem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und dem ST-Hebungsinfarkt (STEMI) (vgl. EKG-Nomenklatur).[1][2] Ursache des akuten Ereignisses ist eine kritische Reduktion des Blutflusses meistens infolge der Ausbildung eines lokalen Thrombus auf dem Boden einer Plaqueruptur oder Plaqueerosion. Während das Blutgerinnsel beim STEMI das Gefäß in der Regel vollständig verschließt, bleibt bei der instabilen Angina pectoris und beim NSTEMI der Blutfluss erhalten.[3]

In der Notfallmedizin dient der Begriff akutes Koronarsyndrom in erster Linie als primäre Arbeitsdiagnose bei einer noch unklaren, akuten und länger anhaltenden (> 20 Minuten) Herz-Symptomatik. Diese Arbeitsdiagnose geht dabei grundsätzlich von einer lebensbedrohlichen Situation des betroffenen Patienten aus. Bei fast einem Drittel der rund 2 Millionen jährlichen Notfälle in Deutschland mit der Arbeitsdiagnose akutes Koronarsyndrom bestätigt sich der Anfangsverdacht: Bei 15 Prozent wird eine instabile Angina pectoris diagnostiziert, bei weiteren 15 Prozent ein NSTEMI oder STEMI[4] und in circa 2 % der Fälle liegt eine Stress-Kardiomyopathie zugrunde.[5]

Mögliche Differentialdiagnosen zum akuten Koronarsyndrom können vielfältiger Natur sein: Sie reichen von weiteren kardiovaskulären Erkrankungen (z. B. Herzrhythmusstörungen, Myokarditis) über pulmonale Erkrankungen (z. B. Lungenembolie), Skeletterkrankungen (z. B. Rippenfrakturen), Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts (z. B. akute Pankreatitis, perforiertes Magengeschwür) bis zu Tumorerkrankungen des Skeletts und der Thoraxwand.[2]

Einteilung

Zur Risikostratifizierung und zielgerechten therapeutischen Behandlung der betroffenen Patienten wird das akute Koronarsyndrom in drei klar definierte Kategorien unterteilt:

  • ST-Hebungsinfarkt (STEMI)
  • Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI)
  • instabile Angina pectoris (UA)

Eine genaue Diagnose erfolgt über die Messung biochemischer Marker (insbesondere kardiales Troponin T und I) und die Elektrokardiographie (EKG).[1] Die für Deutschland geltenden Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie bewerten STEMI und NSTEMI als endgültige Diagnosen.[2][6] Die gemeinsamen Leitlinien des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) bevorzugen dagegen die finalen Diagnosen Q-wave myocardial infarction (Qw MI) oder Non-Q-wave myocardial infarction (NQMI).[7] Diese Unterscheidung zwischen transmuralen (die gesamte Dicke der Wandschicht des Herzens betreffend) und nicht-transmuralen Myokardinfarkten ist auch in den deutschsprachigen Ländern gebräuchlich. Sie wird anhand von Veränderungen des QRS-Komplexes im EKG getroffen, die in der Regel frühestens nach 12 Stunden nachweisbar sind.

ST-Hebungsinfarkt

Von einem ST-Hebungsinfarkt ist auszugehen, wenn einer der folgenden EKG-Befunde vorliegt:

  • ST-Hebung am J-Punkt in 2 zusammenhängende Ableitungen, die folgende Grenzen überschreiten:
    • in V2 und V3 2,5 mm bei Männern unter 40 Jahren,
    • in V2 und V3 2 mm bei Männern über 40 Jahren,
    • in V2 und V3 1,5 mm bei Frauen,
    • 1 mm in allen anderen Ableitungen oder
  • Linksschenkelblock mit infarkttypischer Symptomatik[8]

In der Regel kommt es beim STEMI darüber hinaus zum Anstieg kardialer Marker. Bei Patienten mit einem STEMI steigt der Troponinwert erstmals nach etwa 3 Stunden und bleibt bis zu 2 Wochen erhöht. Lässt sich ein solcher Anstieg nicht nachweisen, muss die Diagnose STEMI in Frage gestellt werden.[3]

Nicht-ST-Hebungsinfarkt und instabile Angina pectoris

Weist das EKG keine ST-Hebungen auf, so ist von einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt oder einer instabilen Angina pectoris auszugehen. Eine genaue Diagnose lässt sich frühestens nach 3 Stunden über den Troponinwert stellen. Während beim NSTEMI geringfügig erhöhte Werte für bis zu 72 Stunden nachweisbar sind, weisen die kardialen Marker bei der instabilen Angina pectoris keine erhöhten Werte auf.[2][3]

Risikofaktoren

Der Erstmanifestation des akuten Koronarsyndroms geht in der Regel eine langjährige Entwicklung voraus. Die Atherosklerose ist dabei die Erkrankung, die fast allen kardiovaskulären Ereignissen zugrunde liegt. Verschiedene Risikofaktoren fördern Entstehung und Fortschreiten der Atherosklerose:

Nicht-beeinflussbare Risikofaktoren:[3][9]

  • Alter
  • männliches Geschlecht
  • positive Familienanamnese für Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Beeinflussbare Risikofaktoren:[3][9]

Prognose und Folgerisiko

Während die Krankenhausmortalität beim akuten Koronarsyndrom in den vergangenen Jahren reduziert werden konnte,[10] bleibt die prähospitale Mortalitätsrate weiterhin überaus hoch: 37 Prozent der Patienten mit einem Myokardinfarkt versterben noch vor dem Erreichen des Krankenhauses.[11]

Innerhalb der initialen Hospitalisierung versterben rund 3 Prozent der Patienten an den Folgen eines akuten Koronarsyndroms. Mit 6 Prozent ist die Mortalität beim ST-Hebungsinfarkt dabei erheblich höher als beim Nicht-ST-Hebungsinfarkt (3 Prozent) und der instabilen Angina pectoris (1 Prozent).[12]

Über das akute Ereignis hinaus besteht nach einem akuten Koronarsyndrom ein erhebliches Risiko, ein weiteres kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden (residuales Risiko). Analysen der 5-Jahres-Mortalität von Patienten mit einem akuten Koronarsyndrom belegen, dass sich ein großer Anteil der ACS-Todesfälle erst im ambulanten Umfeld, das heißt nach der initialen Hospitalisierung ereignet (STEMI: 68 Prozent; NSTEMI: 86 Prozent; UA: 97 Prozent). Insgesamt liegt die 5-Jahres-Mortalität beim akuten Koronarsyndrom bei ca. 20 Prozent. Das langfristige Mortalitätsrisiko ist dabei weitgehend unabhängig von der Art der Erstmanifestation des akuten Koronarsyndroms: Die 5-Jahres-Mortalität beim STEMI (19 Prozent), NSTEMI (22 Prozent) und der instabilen Angina pectoris (17 Prozent) unterscheiden sich nur geringfügig.[12] Des Weiteren zeigte ein schwedisches Register mit 108 000 Patienten, dass nach einem ersten Myokardinfarkt ein 18,3-%-Risiko für ein weiteres kardiovaskuläres Ereignis (erneuter Myokardinfarkt, Schlaganfall oder CV Tod) innerhalb des ersten Jahres besteht.[13]

Sekundärprävention

Primäres Ziel der Sekundärprävention nach einem akuten Koronarsyndrom ist, das Fortschreiten der Atherosklerose zu hemmen und das hohe residuale Risiko zu reduzieren, das heißt ein erneutes kardiovaskuläres Ereignis zu verhindern. Mit Hilfe von Änderungen des Lebensstils, z. B. dem Verzicht auf das Rauchen, regelmäßiger körperlicher Aktivität und einer Ernährungsumstellung, lässt sich das Risiko eines Folgeereignisses reduzieren. Insgesamt ist der Effekt von Änderungen des Lebensstils jedoch begrenzt, so dass in der Regel zusätzlich medikamentöse Therapien zum Einsatz kommen.

Aggregationshemmende Therapie

Es werden sogenannte Plättchenhemmer (z. B. Acetylsalicylsäure, Prasugrel, Ticagrelor, Clopidogrel) verwendet, die der erneuten Ausbildung von Thromben vorbeugen sollen.[14]

Cholesterin-senkende Therapie

Die Behandlung mit Lipidsenkern, in erster Linie Statinen (z. B. Simvastatin), ist Standard in der Sekundärprävention nach einem akuten Koronarsyndrom. Die Statin-Therapie zielt dabei in erster Linie auf eine Senkung des LDL-Cholesterins auf die empfohlenen Zielwerte von unter 80 mg/dl (European Society of Cardiology)[15] bzw. 70 mg/dl (Deutsche Gesellschaft für Kardiologie).[3] Der Einfluss hoher LDL-Cholesterin-Spiegel auf das kardiovaskuläre Risiko ist eindeutig belegt.[16] Verschiedene Studien belegen zudem, dass der Einsatz von Statinen die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse um bis zu 38 Prozent reduziert.[17] Das weiterhin überaus hohe residuale Risiko von über 60 Prozent lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass ein Großteil der Patienten die empfohlenen Zielwerte für verschiedene Parameter wie Blutdruck oder Blutfette nicht erreicht: Trotz Statin-Therapie sind lediglich ein Viertel der Patienten beim LDL-Cholesterin und HDL-Cholesterin im angestrebten Bereich.[18]

Die medikamentöse Erhöhung des HDL-Cholesterins ("gutes Cholesterin") gilt als ein möglicher therapeutischer Ansatz zur zusätzlichen Reduktion des residualen Risikos kardiovaskulärer Ereignisse. Epidemiologische Daten belegen, dass hohe HDL-C-Spiegel mit einem niedrigen Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse korrelieren.[19] Einfluss auf das HDL-Cholesterin nehmen beispielsweise Nikotinsäurederivate und Fibrate. Beide Präparate haben jedoch multiple Effekte auf den Lipidstoffwechsel. Spezifischer lässt sich das HDL-Cholesterin über eine Inhibition des Cholesterinester-Transferproteins (CETP) erhöhen. Mit dem CETP-Inhibitor Anacetrapib befindet sich aktuell noch einer (von insgesamt bisher drei) Substanzen in klinischer Untersuchung, die eine Erhöhung des HDL-Cholesterins über eine komplette bzw. selektive CETP-Hemmung bewirken.[20][21] Die Phase-III-Studie zu Dalcetrapib mit 15.000 Probanden wurde Anfang Mai 2012 aufgrund mangelnder klinischer Wirksamkeit von Roche beendet.[22]

Siehe auch

  • Infarktnetzwerk

Einzelnachweise

  1. a b K. A. A. Fox et al.: British Cardiac Society Working Group on the definition of myocardial infarction. In: Heart. 2004; 90, S. 603–609. doi:10.1136/hrt.2004.038679
  2. a b c d C. W. Hamm: Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom (ACS). Teil 1: ACS ohne persistierende ST-Hebung. In: Zeitschrift für Kardiologie, 2004, 93, S. 72–90. doi:10.1107/s00392-004-1064-2
  3. a b c d e f Pocket-Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom ohne ST-Hebung (NSTE-ACS) – Update 2009. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V.
  4. F. Post, T. Münzel: Das akute Koronarsyndrom. Eine in der Praxis unscharf gehandhabte Diagnose. In: Der Internist. 2010; 8, S. 953–962.
  5. Ärztekammer Nordrhein: Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik "Patientin mit akuten Herzbeschwerden"
  6. C. W. Hamm: Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom (ACS). Teil 2: Akutes Koronarsyndrom mit ST-Hebung. In: Z Kardiol. 2004; 93, S. 324–341. doi:10.1007/s00392-004-0109-x
  7. E. M. Antmann et al.: ACC/AHA Guidelines for the Management With ST-Elevation Myocardial Infarction. In: J Am Coll Cardiol. 2004; 44, S. §1–E211.
  8. Kristian Thygesen et al.: "Fourth Universal Definition of Myocardial Infarction (2018)" Journal of the American College of Cardiology Volume 72, Issue 18, October 2018
  9. a b Peter Libby: Current Concepts of the Pathogenesis of the Acute Coronary Syndromes. In: Circulation. Band 104, Nr. 3, 17. Juli 2001, S. 365–372 (circ.ahajournals.org [abgerufen am 17. Mai 2011]).
  10. Gesundheitsberichterstattungen des Bundes. Robert Koch-Institut, 2006, Nr. 33
  11. J. H. Schiff, H. R. Arntz, B. W. Boettinger: Das akute Koronarsyndrom in der Prähospitalphase. In: Der Anaesthesist. 2005; 54 (10), S. 957–974.
  12. a b K. A. A. Fox et al.: Underestimated and under-recognized: the late consequences of acute coronary syndrome (GRACE UK-Belgian Study). In: Eur Heart J. 2010, doi:10.1093/eurherartj/ehq326
  13. Jernberg T et al.: “Cardiovascular risk in post-myocardial infarction patients: nationwide real world data demonstrate the importance of a long-term perspective.” In: Eur Heart J. 2015: 36(19), S. 1163–70. doi: 10.1093/eurheartj/ehu505
  14. L. Wallentin: Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. In: N Engl J Med. 2009 Sep 10;361(11), S. 1045–1057. doi:10.1056/NEJMoa0904327.
  15. Graham et al.: European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice: executive summary. In: Eur Heart J. 2007; 28, S. 2375–2414. doi:10.1093/euroheartj/ehm316
  16. Ference BA et al.: “Low-density lipoproteins cause atherosclerotic cardiovascular disease. 1. Evidence from genetic, epidemiologic, and clinical studies. A consensus statement from the European Atherosclerosis Society Consensus Panel.” In: Eur Heart J. 2017: 38(32), S. 2459–72. doi: 10.1093/eurheartj/ehx144
  17. P. Libby et al.: The Forgotten Majority. Unfinished Business in Cardiovascular Risk Reduction. In: J Am Cardiol. 2005; 46, S. 1225–1228. doi:10.1016/j.jacc.2005.07.006
  18. A. K. Gitt et al.: Prevalence and overlap of different lipid abnormalities in statin-treated patients at high cardiovascular risk in clinical practice in Germany. In: Clinical Research in Cardiology 2010; 99, S. 723–733. doi:10.1107/s00392-010-0177-z
  19. P. Barter et al.: HDL cholesterol, very low levels of LDL cholesterol, and cardiovascular events. In: N Engl J Med. 2007; 357, S. 1301–1310.
  20. C. P. Cannon et al.: Safety of Anacetrapib in Patients with or at High Risk for Coronary Heart Disease In: N Engl J Med. 2010; 363, S. 2406–2415.
  21. J. Niesor et al.: Dalcetrapib Binds to and Changes the Conformation of CETP in a Unique Manner. In: Circulation, 2009, 120, S. 445: Abstract 1092.
  22. Roche informiert über Phase-III-Studie mit Dalcetrapib. (Memento des Originals vom 19. August 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.roche.com (PDF; 81 kB) Roche GmbH, 7. Mai 2012, Presseerklärung.