Kurt Gritsch

Kurt Gritsch (2018)

Kurt Gritsch (* 21. Juni 1976 in Meran, Südtirol[1]) ist ein italienischer Historiker und Autor. Seine Forschungsschwerpunkte sind Zeitgeschichte, Konfliktforschung, Medien- und Rezeptionsgeschichte. Er publiziert hauptsächlich zu Konflikten der jüngeren Geschichte, insbesondere dem Kosovokrieg, dem Krieg in der Ukraine, den Bürgerkriegen in Syrien und Libyen und verwandten Themenkomplexen wie der Arbeitsmigration und den Ursachen der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa ab 2015.

Gritsch war an den Universitäten Innsbruck und Luzern tätig und arbeitet als freischaffender Historiker am Institut für Kulturforschung Graubünden.[2][3][4] Er schreibt regelmäßig für das Online-Magazin Telepolis.[5]

Leben

Kurt Gritsch studierte von 1995 bis 2000 Geschichte, Deutsche Philologie, Alte Geschichte und Philosophie/Medienkunde an der Universität Innsbruck und der Universität Rom III. Im November 2000 erhielt er für eine Diplomarbeit zum Thema Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“ den Magister Philosophiae, 2009 promovierte er bei Michael Gehler an der Universität Hildesheim mit summa cum laude mit einer Dissertation mit dem Titel Inszenierung eines gerechten Krieges? NATO, Medien und Intellektuelle im 'Kosovo-Krieg' 1999, einer Diskursanalyse über den Kosovo-Krieg.[1]

Gritsch ist mit der italienischen Dramaturgin und Autorin Selma Mahlknecht verheiratet.[6]

Positionen

Zum Kosovo-Konflikt und der Rolle der NATO

Gritsch beschäftigt sich laut eigenen Angaben seit 1999 mit dem Kosovo-Konflikt. Unter anderem anhand einer systematischen Auswertung der Berichterstattung deutscher Printmedien wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Der Spiegel und Die Tageszeitung kommt er zum Schluss, dass die Berichterstattung „in hohem Ausmaß gesteuert“ gewesen sei:

„Auffallend war, dass alle fünf untersuchten Zeitungen zu keinem Zeitpunkt deeskalierend berichtet haben, wie dies beispielsweise die UNESCO-Mediendeklaration von 1978 verlangt, sondern stattdessen ein militärisches Eingreifen der NATO forderten. Dazu wurde offenbar sehr gezielt ein jugoslawisch-serbisches Feindbild aufgebaut, indem man an das negative Jugoslawien-Bild aus dem „Bosnien-Krieg“ anknüpfte.“[7]

Der angeblich bereits während des Bosnienkrieges 1992 von der amerikanischen PR-Agentur Ruder Finn lancierte Vergleich „Serben=Nazis“ sei daraufhin reaktiviert und in der Analogie „Milosevic=Hitler“ kulminiert, um Serbien eine „ethnische Säuberung“ im Kosovo zu unterstellen. Einige Medienberichte, beispielsweise zum Massaker von Račak, hätten sich später als einseitig, übertrieben und irreführend herausgestellt.

Der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan räumte in einer ersten Stellungnahme zum Bombardement Serbiens ein, dass es Situationen geben könne, in denen der Einsatz von Gewalt zur Erreichung von Frieden gerechtfertigt sei. Die primäre Verantwortung für den Frieden läge aber, auch nach der NATO-Charter, beim Weltsicherheitsrat.[8] Gritsch interpretiert die nach seiner Auffassung tendenziöse Medienberichterstattung als weitreichendes Narrativ, mittels welchem die UNO diskreditiert und stattdessen die NATO als vermeintlich „effizientere Lösungsorganisation“ dargestellt werden sollte. Dieses Narrativ habe konfliktverschärfend gewirkt, sich durchgesetzt und dann als Rechtfertigung für die Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien im Rahmen der Operation Allied Force gedient. Der NATO sei es laut Gritsch letztendlich erfolgreich gelungen, sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von einem reinen Verteidigungsbündnis in ein Interventionsbündnis zu verwandeln und damit ihr eigenes Fortbestehen zu sichern. Viele NATO-Mitglieder, darunter insbesondere Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, hätten ein großes Eigeninteresse an diesem Prozess gehabt:

„Die NATO wollte zeigen, dass sie nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte. Ziel war die Wandlung vom Defensiv- zum Interventionsbündnis. Zudem ermöglichte sie einzelnen Mitgliedern Profit: Deutschland, das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Der größte Erfolg gelang den USA. Sie erreichten die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Für den „Weltfrieden“ sollte zukünftig nicht mehr die UNO zuständig sein. Der Weg zu weiteren Kriegen im 21. Jahrhundert war damit vorgezeichnet.“[9]

Kontroverse um Peter Handke

Siehe auch: Peter Handke#1996 bis 2005, Serbien-Kontroverse und Peter Handke#Würdigung und Kritik

Gritschs erstes Buch, Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“, befasst sich mit der öffentlichen Kontroverse um den österreichischen Schriftsteller Peter Handke nach der Veröffentlichung von dessen Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien im Jahr 1996.

Bei der Vergabe des Nobelpreises für Literatur 2019 an Handke wurde Gritschs Buch von Akademie-Mitglied Eric M. Runesson berücksichtigt.[10][11] In einem Artikel von Peter Maass in The Intercept wurde Gritsch und dem deutschen Autor Lothar Struck vorgeworfen, mit ihren Büchern längst widerlegte Verschwörungstheorien zum Bosnienkrieg zu verbreiten.[12] Gritsch wies diese Darstellung zurück und betonte in einer Stellungnahme, dass „sein Buch keine Verschwörungstheorie vertrete, sondern lediglich in einem vergleichsweise belanglosen Nebenaspekt der Handke-Rezeption die unter Wissenschaftlern diskutierte These referiere, dass Ruder Finn dazu beigetragen habe, die serbischen Lager mit dem Holocaust zu vergleichen“.[13]

Publikationen

  • Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte. StudienVerlag, Innsbruck 2009, ISBN 978-3-7065-4614-0.
  • Inszenierung eines gerechten Krieges?: Intellektuelle, Medien und der "Kosovo-Krieg" 1999. Verlag Georg Olms, Hildesheim 2010, ISBN 978-3-487-14355-2.
  • Krieg um Kosovo: Geschichte, Hintergründe, Folgen. Taschenbuch. innsbruck university press, Innsbruck 2016, ISBN 978-3-902936-83-7.
  • Vom Kommen und Gehen. Arbeitsmigration in Südtirol. Monographie. Edition Raetia, Bozen 2016, ISBN 978-88-7283-567-8.

Einzelnachweise

  1. a b Detaillierter Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Kurt Gritsch. Universität Innsbruck, abgerufen am 21. August 2019.
  2. Brigitte Haidler: Mag. Dr. Kurt Gritsch. Abgerufen am 21. September 2021.
  3. Universität Luzern: Dr. Kurt Gritsch. Abgerufen am 21. September 2021.
  4. Projekte – Kulturforschung Graubünden. Abgerufen am 21. September 2021.
  5. Kurt Gritsch. Abgerufen am 19. Oktober 2019.
  6. Selma und Kurt. In: salto.bz. 29. November 2018, abgerufen am 23. Januar 2019.
  7. Es begann mit einer Lüge. In: NachDenkSeiten - Die kritische Website. Abgerufen am 15. Oktober 2019 (deutsch).
  8. Secretary-General deeply regrets Yugoslav rejection of political settlement; says Security Council should be involved in any decision to use force. In: Presseerklärung der Vereinten Nationen, 24. März 1999. Abgerufen am 8. Dezember 2019 (englisch).
  9. Kurt Gritsch: Als am 24. März 1999 der Kosovo-Krieg begann. Abgerufen am 19. Oktober 2019.
  10. Svenska Akademien om kritiken mot Nobelpristagaren: ”Finns olika bilder av Peter Handke”. 12. Oktober 2019, abgerufen am 15. Oktober 2019 (schwedisch).
  11. Handke-Debatte: „Hier werden Behauptungen aufgestellt, die im Zirkelschluss bewiesen werden“. In: NachDenkSeiten - Die kritische Website. Abgerufen am 28. Oktober 2019 (deutsch).
  12. Peter Maass: Peter Handke Won the Nobel Prize After Two Jurors Fell for a Conspiracy Theory About the Bosnia War. The Intercept, 14. November 2019, abgerufen am 14. November 2019.
  13. Geschichtsverfälschung: Debatte über Revisionismus auf dem Balkan - derStandard.de. Abgerufen am 19. November 2019 (österreichisches Deutsch).

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Autor/Urheber: Simon Raffeiner, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Porträt des italienischen Historikers und Autors Kurt Gritsch